Schriftenreihe Privat

Wednesday, January 10, 2007

Wer wandert denn schon nach Indien aus ?

Wenn man von Schweizern vernimmt, dass sie ausgewandert sind, dann denkt man sofort an Spanien, Südfrankreich oder Kanada. Dass es aber auch solche gibt, welche nach Indien auswandern, tönt schon fast verdächtig. Sicher Leute, welche dort ihren Guru suchen oder sich selber finden wollen, ist dann schnell der nächste Gedanke. Dass dem aber gar nicht so sein muss, zeigt der fol­gende Reisebericht von Johanna Hoff­mann.

Der Einladung von Yvonne, einer ehemaligen Schulkollegin folgend, fasste ich den Entschluss, nach dem fernen Indien zu fliegen. Der Flug im bequemen Airbus der Air Lanka führte mich von Zürich über Co­lombo nach Trivandrum, der Hauptstadt Keralas in Sü­dindien. Yvonne begrüsste mich am Flughafen im lan­desüblichen Sari und ich staunte nicht schlecht, als sie mich bat, in ihrem, am Heck mit einem Schweizerkreuz-Kleber versehenen Auto Platz zu nehmen.

In abenteuerlicher Fahrt über holperige Strassen brachte uns der Chauffeur nach Var­kala, dem jetzigen Wohnort von Yvonne und ihrem Mann Hans. Vor einem grossen, wunder­schönen Haus wurde Halt gemacht und ich dachte, dass Yvonne hier etwas zu besorgen hätte. Aber nach zweimaligem Hupen wurde das grosse Tor geöffnet und wir fuhren direkt auf den Vorplatz der Villa Deepam. Yvonne führte mich in das für mich liebevoll vorbereitete grosse Gästezimmer mit eigenem Anklei­de­raum und Bad. Bei einem herrlichen Willkommensdrink aus frischen Ananas wurde mir zur Begrüssung eine Blumengirlande umgehängt. Müde von der langen Reise legte ich mich auf Empfehlung meiner Gastgeber ins Bett und fiel sofort in einen tiefen und erholsamen Schlaf. Ich hatte nicht nur eine lange Reise hinter mir, son­dern musste meine innere Uhr auch an die Zeitverschiebung von viereinhalb Stun­den gewöhnen.

Am späten Nachmittag sassen wir auf der gro­ssen, mit einem Palmdach überdeckten Dachterrasse und hatten uns viel zu erzählen, war es doch schon ei­nige Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich war natürlich vor al­lem neugierig darauf, zu erfahren, wieso Yvonne und ihr Mann sich ausgerechnet in Indien niedergelassen hatten. Yvonne be­gann zu erzählen:

Die Geschichte einer Auswanderung

Hans und ich haben uns einen langjährigen Traum erfüllt. Es war schon immer unser Wunsch, in einem wärmeren Land, ohne Hektik und Stress zu leben. Durch eine Be­kannte wurden wir auf Kerala aufmerksam ge­macht, einen kleinen Staat in Südin­dien, von dem wir bisher noch nie etwas gehört hatten. So begann ich, alles zu­sammen zu tragen, was ich über Kerala finden konnte. Wir erkundigten uns bei Leu­ten, welche schon in Indien waren. Bei dieser Gelegenheit lernen wir auch Inder ken­nen, mit denen wir heute noch freundschaftlich verbun­den sind. Dabei sind wir auf eine Hilfsbereitschaft gesto­ssen, welche wir bisher nur selten fanden; alle ver­suchten uns irgendwie weiterzuhelfen.

Nach einer "theoretischen" Vorbereitungszeit, während welcher wir sehr viel von In­dien und vor allem von Kerala in Erfahrung brachten, flogen wir im Januar 1996 für vier Wo­chen nach Kerala. Bevor wir uns zur endgültigen Auswan­derung ent­schlossen, wollten und mussten wir dieses Land ja auch noch "praktisch" ken­nenler­nen. Auch hier hatten wir wie­derum das grosse Glück, fortlaufend Leute zu treffen, welche uns weiter­halfen. Wir reisten in Kerala umher, um herauszufinden, wo es uns am besten gefallen würde. So kamen wir ins Landesinnere, dann in die Ha­fenstadt Cochin und weiter an die Backwaters, ein weitver­zweigtes über 3'000 Kilo­meter lan­ges Wasserstrassennetz. Ue­berall fan­den wir freundliche Menschen und vor allem fühlten wir uns in diesem warmen Klima ausserordentlich wohl.

Noch hatten wir aber nicht den Ort gefunden, wo wir uns niederlassen wollten, wir wussten nur, dass wir auf jeden Fall in der Nähe des Meeres wohnen möchten. Durch einen weiteren glücklichen Zufall lernten wir ein Architektenpaar aus Bern ken­nen, welches schon seit vielen Jahren teils in der Schweiz, teils in Kerala lebt. Von denen erhielten wir den Tip, nach Varkala zu gehen. Gesagt, getan. Und tatsächlich, vier Tage vor unserer Rückkehr in die Schweiz fanden wir den Ort, wo es uns gefiel und wir uns ein Leben zu zweit vorstellen konnten. Wir besichtigten auch ein Haus, das wir hätten mieten können. So stand unser Ent­schluss, den grossen Schritt endgül­tig zu wagen, bereits einen Tag vor unserer Rück­reise fest. Als Termin wählten wir den Monat August, weil dann die Hauptregenzeit in Kerala vorüber ist.

Die Vorbereitungszeit

Zurück in der Schweiz, begann für uns eine hekti­sche Zeit. Wir mussten unseren Fa­mi­lien, Verwandten, Bekannten und Freunden unsere Auswanderungsabsicht mitteilen. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand etwas von unseren Plä­nen. Mehrheitlich fanden wir nach dem ersten Erstaunen Verständnis für unseren Ent­schluss. Nur meine Eltern hatten es anfänglich schwer, zu begreifen, dass wir in ein so fernes und unbekanntes Land auswandern wollten. Inzwischen haben sie es aber akzeptiert und meine Mutter war sogar schon einmal drei Wochen bei uns zu Be­such.

Jetzt begann das Rennen gegen die Zeit. Da wir auf Empfehlung unserer neuen Be­kannten in Kerala be­schlossen hatten, nur die persönlichsten Sachen mit­zu­nehmen, mussten wir unseren Haushalt auflösen, die Wohnung kündigen, unser Schiff und die Autos verkau­fen. Ich liess in einer Tageszeitung ein kleines Inserat er­scheinen, dass wir zufolge Auswanderung unseren ge­samten Hausrat verkaufen. Und das Unglaubliche ge­schah tatsächlich, innerhalb von nur drei Stunden war praktisch alles verkauft. So fanden wir uns am Abend in unserer Wohnung nur noch mit den allernötigsten Ein­richtungsgegenständen. Es blieben nur noch jene Sachen, welche wir nach Kerala mitnehmen wollten; meine vie­len Fotoalben, unsere Bü­cher, Videos, Fotokameras und einen Teil der Wäsche. Meine Kleider verkaufte ich ei­nem Secondhand-Shop. Unsere Habe, welche wir mit­nehmen wollten, verpackten wir in grosse Kartons und gaben sie einem Transportunternehmen ins Lager zur späteren Spedition nach Kerala.

Im März 1996 flog mein Mann nochmals für zehn Tage nach Kerala, um alles mit dem Haus klar zu ma­chen. Statt des von uns im Januar besichtigten, relativ ein­fa­chen Hauses, fand er ein grösseres und schöneres Haus in der Nähe der Klippen, welches wir ab August vorerst bis im März 1997 mieteten.

Das Wohnungsproblem in Bern lösten wir inso­fern auf eine etwas ungewöhnli­che, aber nicht minder originelle Weise, indem wir vom Mai bis zu unserer Ab­reise im August auf einem Campingplatz in der Nähe von Bern einen Wohnwagen mieteten und so unsere letzten drei Monate in der Schweiz im Camping wohnten. So hatten wir genügend Zeit, unsere Woh­nung zu reinigen und abzugeben und alle mit der Abreise zusammenhän­genden Aufgaben, insbesondere auch die Beschaffung der Visas und den ganzen Behördenkram zu erledigen. Sodann galt es, nicht nur von den vielen Bekannten und Freunden, sondern auch von der "Merlotscha" unserem Schiff, Abschied zu nehmen, auf welchem wir über zehn Jahre lang fast alle unsere Wochenenden und einen Grossteil unserer Ferien verbracht hatten.

Auf nach Indien

Am 17. August 1996 war es dann soweit. Auf dem Flughafen Kloten von der Familie und Freunden verabschiedet, verliessen wir endgültig unsere alte Hei­mat. Einen Tag später kamen wir in Trivandrum an, wo wir von unserem indischen Freund Bose abgeholt und nach Varkala gefahren wurden. Da wartete nicht das gro­sse Abenteuer, sondern ganz im Gegenteil recht harte Arbeit auf uns. Es galt, das ge­mietete Haus, welches wir in einem typisch indi­schen Zustand vorfanden, zuerst ein­mal von unten bis oben gründlich zu reinigen. Zudem mussten wir eine neue In­nen­einrichtung anschaffen. Al­les ist hier viel günstiger zu haben. Was wir nicht fertig kaufen konnten, liessen wir von zwei Schreinern auf dem Vorplatz unse­res Hauses nach Mass anfertigen.

Dann mussten wir unser mitgebrachtes Hab und Gut aus dem Zollfreilager auslösen, was einen vollen Tag in Anspruch nahm und unsere Nerven ziemlich stra­pa­zierte. Aber mit der Hilfe unseres Freundes Bose über­wanden wir auch diese Schwie­rigkeiten. Was uns vor al­lem freute, war die Tatsache, dass alles in bestem Zu­stand angekommen und nicht ein ein­ziges Stück beschä­digt war.

Nun galt es, unsere neue Umgebung kennen zu lernen, vor allem auch die Einkaufs­möglichkeiten für den täglichen Bedarf. Da unser Haus gut drei Kilometer vom Städtchen Varkala entfernt war, kauften wir kurzerhand eine Vespa, mit welcher wir unsere täglichen Einkäufe erledigten. In der Zwischenzeit hatten wir auch ein ei­ge­nes Auto angeschafft, einen hier in Indien fabrizierten Ambassador. Dieses Auto wird seit 1957 unverändert ge­baut und ist zu fahren wie ein Traktor, aber es ist für die hiesigen Strassen bestens geeignet. Im Herbst 1997 haben wir die Vespa verkauft und dafür eine Autorikscha ange­schafft, ein dreirädriges Gefährt mit einem 150 ccm Motor. Diese Rikschas sieht man hier dutzendweise, sie werden als Kleintaxi ein­gesetzt. Wir sind die ersten Pri­vaten, welche sich so eine praktische Rikscha zugelegt haben. In Varkala und in der näheren Umgebung fährt Hans selber, womit er hier zu einem Unikum geworden ist, denn weit und breit ist er der einzige Weisse, der sel­ber am Steuer sitzt. Für weitere Strecken lassen wir uns aber durch unseren Chauffeur fahren, weil es relativ schwierig ist, sich zu orientieren. Genaue Strassenkarten gibt es nicht und wenn schon einmal eine Strasse be­zeichnet ist, dann nur in der für uns noch nicht enziffer­baren Landes­sprache.

Nachdem wir uns im Prabhava, wie unser erstes Haus hiess, so richtig einge­lebt hat­ten, durften wir schon die ersten Besucher aus der alten Heimat bei uns emp­fangen. Das ging dann mit nur kleinen Unterbrüchen bis heute so weiter.

Schneller als erwartet, gewöhnten wir uns an das hiesige sehr gleichmässige Klima. Die Tagestemperatu­ren bewegen sich zwischen 28 und 34° Celsius, in der Nacht zwischen 25 und 28°. Die Luftfeuchtigkeit ist mit ca. 80 % recht hoch, was zur Folge hat, dass man schon bei der kleinsten Anstrengung ins Schwitzen kommt. Aber auch daran gewöhnt man sich sehr schnell, vor al­lem auch deshalb, weil hier vom Meer her immer eine angenehme Brise weht.

Kleider machen Leute

Da wir uns hier ja in die Bevölkerung integrieren wollen, haben wir von Anfang an darauf geachtet, mög­lichst nicht durch westliche Kleidung aufzufallen. So trägt Hans im Haus die hier üblichen Dothi oder Lunghi, ein weisses bzw. farbiges Hüft­tuch, dar­über ein Hemd oder nur einen dünnen Schal. Auf die Strasse geht er mit der Kurta, das ist eine lange Hose und darüber ein bis unter die Knie reichendes Hemd, beides aus Baumwolle und sehr bequem zu tragen. Ich habe daheim mei­stens ei­nen langen Jupe und eine Bluse an. Ausser Haus trage ich den Churydar (lange Hose, darüber ein langer Rock so­wie einen dazugehörigen Schal) oder einen Sari. Dieser besteht aus einem sechs Meter langen Stück Stoff, welches kunstvoll um den Körper drapiert wird, darunter trägt man einen Unterrock und eine ganz eng ge­schnittene kurze Saribluse. Als Fussbekleidung tragen hier alle ein­fache Schlappen. Mit ande­ren Worten: die Kleiderfrage ist für uns hier kein Problem.

Vom Glück verwöhnt

Im Dezember 1996 kam für uns ein weiterer Glücksfall, indem wir zufällig unser Traumhaus fanden. Es ist zwar etwas weiter von der Küste und dem Strand entfernt, aber wir ha­ben von hier aus einen wunderschö­nen Ausblick auf die palmenbe­wachsenen Täler unter uns. Wenn wir die Miete mit der Schweiz vergleichen, können wir hier für den Betrag, den wir in Bern für un­sere Wohnung im Monat bezahlen mussten, ein ganzes Jahr in diesem gro­ssen Haus wohnen. Ueberhaupt sind die Le­benshaltungskosten hier so niedrig, dass wir mit der Altersrente meines Mannes sehr gut und komforta­bel leben können.

Ein so grosses Haus gibt natürlich entsprechend viel Arbeit. So haben wir nach einer Hausangestellten ge­sucht. Nach zwei vergeblichen Anläufen haben wir un­sere Santha gefun­den, welche sich als wirkliche Perle herausgestellt hat. Sie wohnt bei uns in der neben dem Haus gelegenen Dienstbotenwohnung. Santha kauft täg­lich auf dem nahen Markt ein und verwöhnt uns mit der ke­ralitischen Küche. Daneben hält sie unser Haus sau­ber, so dass ich mich um gar nichts mehr kümmern muss und mich ganz unseren Gästen widmen kann. Seit Ok­to­ber 1997 haben wir auch Savitha, das fünfjährige Töch­terchen unserer Hausange­stellten, bei uns aufgenommen. Savitha bereitet uns sehr viel Freude und bereichert unse­ren Alltag. Sie besucht eine englische Schule am anderen Ende von Varkala. Savitha hat in ihrem kurzen Le­ben schon viel Leid erfahren müssen, um so mehr erfüllt es uns heute mit Genugtuung, dass wir ihrer Mutter und ihr ein sicheres Zuhause bie­ten, für den Lebensunterhalt auf­kommen und somit ein kleines Stück des uns zufallenden Glücks weiter geben kön­nen.

Fremde Länder, fremde Speisen

Soweit die Erklärungen von Yvonne, während am Horizont die Sonne in einer grossen orangefarbigen Scheibe ins Meer versinkt. Wir gehen hinunter ins grosse Ess­zimmer, wo Santha den Tisch gedeckt hat. Nach ke­ralitischer Sitte schöpft sie uns ein köstli­ches vegeta­ri­sches Mahl auf ein grosses Bananenblatt. Nebst Reis gibt es sieben ver­schiedene Ge­müsecurries, jedes hat einen andern Geschmack. Dazu gibt es knac­kiges Paparam, eine Art Fasnachtsküchlein, aber statt süss, recht scharf. Die Curries sind herrlich würzig, doch nicht so scharf, dass einem die Luft wegbleibt. Zum Trinken gibt es Mi­neralwasser. Das Unge­wohnte für mich war, dass kein Besteck vor­handen war und wir mit den Fingern essen muss­ten, wie es hier die Einheimischen tun. Yvonne zeigte mir, wie man das Es­sen mit den Fin­gern in den Mund bringt und meinte dazu lachend: nicht dass du jetzt meinst, wir essen im­mer so, gewöhnlich benützen wir auch Teller und Besteck. Dies hier mit dem Bananenblatt hat sich Santha zu deiner Be­grüssung ausgedacht. Zum Dessert gab es jede Menge von ver­schiedenen frischen Früchten, köstliche Bananen, Ananas, Mangos, Papayas, Orangen und Trauben. Nach­her tranken wir Chaya, den Tee, welcher mit Milch und Zucker gemischt und dann so serviert wird. Es würde zu weit führen, alle die Gerichte aufzuzählen, welche ich während meines Besuches hier kosten durfte. Jedoch habe ich mein Vorurteil gegenüber der vegetarischen Kost schnell revidieren müssen, denn die keralitische Küche bietet mit ihren einfachen, aber raffiniert zube­reiteten Spezialitäten so viel Abwechslung, dass sie ei­nem gar nie verleiden kann.

Am nächsten Tag zeigte mir Yvonne das grosse Haus und den Garten. Was mich am meisten verblüffte, waren die beiden grossen Küchen. Ich liess mich be­leh­ren, dass man diese Aufteilung in grossen Häusern recht oft findet. Man unter­scheidet dabei zwischen der grossen Küche, in welcher gekocht und die Speisen zum servie­ren vorbereitet werden und der kleinen, sogenannten schmutzigen Küche, in welcher das Gemüse gerüstet, der Fisch geputzt wird, etc. Im oberen Stockwerk befinden sich die beiden grossen und komfortabel eingerichteten Gäste­zimmer, je­des natürlich mit eigenem Badezimmer. Eine grosse gedeckte Terrasse ist für die Gä­ste reserviert und lädt zum ausruhen, lesen oder einfach dasitzen ein. Der elterli­chen Tra­dition folgend vermietet Yvonne diese beiden Gästezimmer an Touristen, welche ihr durch be­freundete Reisebüros vermittelt werden. Es sind vor­nehmlich Gä­ste, wel­che es vorziehen, Kerala individuell zu bereisen und nicht in Gruppenhorden von Ort zu Ort gehetzt werden wollen. Aus der Not haben so Yvonne und Hans eine Tugend gemacht und ein eigenes kleines Reisebüro aufgezogen, die Merlotscha Travels Kerala. Ausser der persönlichen Betreuung der Gäste können sie verschie­dene Aus­flüge und individuelle Rundreisen in Kerala organisieren. Damit ist gewähr­leistet, dass die Gäste ohne Stress möglichst viele Eindrücke von Kerala ge­winnen und mit nach Hause nehmen können.

Integration als Lernprozess

Und wie war es mit dem viel zitierten Kultur­schock? Meine Gastgeber meinten, der Kulturschock hätte sie zwar nicht gerade umgehauen, aber das eintau­chen in diese für uns doch sehr fremde Kultur sei nicht nur eine überwältigende und faszi­nierende Erfahrung, son­dern auch ein Lernprozess, welcher Jahre dauert. Man be­nötigt dafür eine gesunde Neugier und Offenheit, um die ganz anderen Umstände und Ge­wohnheiten zu ak­zeptieren. Vor allem darf man nicht den Fehler begehen, alles immer mit Europa oder der Schweiz vergleichen zu wollen. Wohl in keinem an­deren Land als in Indien fin­den sich so unendlich grosse Gegen­sätze. Uralte Traditio­nen und modernste Technik berühren sich praktisch nahtlos. Dazu kommt die tiefe Ver­wurzelung in den reli­giösen Bräuchen. Eine Besonderheit in Kerala ist das friedli­che Zusammenleben verschiedener Religionen; den Hauptteil machen die Hindus aus, je ungefähr einen Viertel stellen die Moslems und Christen und ein kleine­rer An­teil sind Buddhisten. Das Eigenartige dieser ge­mischten Religionsgemeinschaft be­steht darin, dass alle immer gemeinsam alle ihre religiösen Feste feiern - und de­ren gibt es hier unzählige. Yvonne empfiehlt in diesem Zusammenhang allen Reisen­den, welche Indien zum er­sten Mal besu­chen, sich vor Antritt der Reise unbe­dingt durch Reiseführer und entsprechende Literatur vor­zube­reiten. So ist es einfa­cher, der An­dersartigkeit dieses in alten Traditionen verwurzelten Volkes zu begegnen und des­sen vielfältige Sitten und Gebräuche besser verstehen zu lernen.

Ich könnte noch so viel erzählen von meinen Auf­enthalt in Varkala, von den vielen unvergesslichen Ein­drücken und Erlebnissen in Kerala und der kurzen Rund­reise durch die­sen interessanten Staat in Südindien. Und ich kann jetzt auch Yvonne und Hans verstehen, wenn sie freudestrahlend bestätigen, dass sie ihren Ent­schluss, nach Kerala auszuwandern, noch keine Sekunde bereuten und glücklich sind, hier eine neue Heimat gefunden zu haben.

Savitha, ein modernes indisches Märchen

Hans Müller

Am 18. August 1997 war es genau ein Jahr her, dass wir in Varkala angekommen sind und uns hier niedergelassen ha­ben. Eigentlich hatten wir vorgehabt, unser "Jubiläum" so richtig festmä­ssig mit einer gro­ssen Party zu begehen. Aber wie so oft bei Müllers, erstens kommt es anders, und zwei­tens, als man denkt …….

Ich hatte vorige Woche ein ganz sonderbares Erlebnis. Un­sere Hausangestellte Santha wollte zwei Freitage ein­ziehen. Da sie wegen eines geschwollenen Beins starke Schmerzen hatte, ent­schloss ich mich ganz kurzfristig, sie selber nach Hause zu fah­ren, ungefähr 40 km von Varkala weg in ei­nem kleinen Ort in den Bergen. Mr. Vijayn, ein Bekannter, welcher uns Santha seinerzeit empfohlen und bei uns ein­geführt hatte, stellte sich spontan als Begleiter und vor al­lem als Weg­weiser zur Verfügung.

Am Bestimmungsort angekommen, zeigte uns Santha ihr Häuschen, bestehend aus einem einzi­gen Raum, etwa so gross wie unser Wohnzimmer. Es steht ganz idyllisch an einem Waldrand, inmitten von vielen Palmen und ande­ren Bäumen. Es ist jetzt unbewohnt; während den Auf­ent­hal­ten in ihrem Dorf wohnt Santha bei der Schwester ihrer Mutter. Als wir wieder zum Auto zurückgingen - Santha voraus, dann unser Wegweiser und ich - kam uns von oben ganz allein ein herziges, kleines Mädchen ent­gegen mit ei­ner Tasche. Santha und das kleine Mädchen liefen mit ei­nem Freudenschrei aufeinan­der zu und Santha schloss ihre kleine Tochter fest in die Arme, Freudentränen liefen bei­den über die Wangen, ein echt ergreifendes Bild.

Ja, und was ist daran denn Besonderes, werdet Ihr jetzt si­cher denken, solche Wieder­sehenser­eignisse gibt es doch alle Tage zu Tausenden. Da habt Ihr zwar recht, aber jetzt möchte ich Euch erzählen, weshalb dieses Wiedersehen für mich eine ganz an­dere Bedeutung be­kam:

Unsere Santha, 32 Jahre alt, ist verheiratet und hat zwei Kinder, beides Mädchen. Sie wohnte mit ihrer Familie an verschiedenen Orten, Gujarat und Bombay. Ihr Mann fand dann Santha's Schwester attrakti­ver und wollte ei­nen Haushalt zu Dritt führen - Santha sollte dabei das Dienst­mädchen spielen und ihr Mann und ihre Schwester das Ehe­paar. Santha machte das nicht mit und ging zu­rück in ihr Dorf und ihr Häuschen und suchte eine Stelle als Hausmädchen, wel­che sie dann zuletzt bei uns fand. Ihr Mann wohnt jetzt mit der älteren Tochter in Bombay, wo diese zur Schule geht und die jün­gere Tochter Savitha wohnt bei Santha's Schwester, welche für das kleine Mäd­chen (5 ½ Jahre alt) zum lebenden Inbegriff der bö­sen Stiefmutter geworden ist. Diese hat Santha's Kind jegli­chen Kontakt mit Santha, der leiblichen Mutter, verboten. Sie hat es gezwungen, ihr Mutter zu sagen und von der eigenen Mutter nur von Santha zu sprechen. Am Tisch hat die Kleine al­lein zu sitzen, bekommt nur kärg­liches Essen und dafür um so mehr Schläge.

Als ich das alles erfahren habe, musste ich ein paar Mal leer schlucken. Wir haben unsere Santha in den fünf Monaten, welche sie bei uns ist, recht lieb gewonnen. Sie nennt uns auch Mutter und Vater, weil wir nach ihrer Aussage gegen­über Dritten so gut für sie sorgen und sie bei uns gut auf­gehoben und auch beschützt ist. Das Bild vom zufälligen Zusammentreffen von Santha und ihrem Kind, welches von der Schule nach Hause kam, hat mich bis heute nicht verlassen und mir nach meiner Rückkehr eine schlaflose Nacht bereitet. Ich habe Yvonne die ganze Begegnung ge­schildert; wir waren beide erschüt­tert und bewundern die Stärke von Santha, mit wel­cher sie dieses Schicksal trägt: von der eigenen Familie ausge­stossen, in Diensten bei fremden Leuten, welche erst noch eine andere Sprache sprechen, das Wissen um ihre Familienverhältnisse und die Um­stände, unter welchen die kleine Savitha zu lei­den hat.

Immer wieder mussten wir uns fragen, was mich dazu be­wogen hatte, Santha nicht mit dem Bus nach Hause fahren zu lassen sondern sie mit unserem Wagen selbst dorthin zu bringen. Weshalb haben wir zuerst das Haus von Santha besichtigt, anstatt direkt zu ihrer Tante zu fahren? Und wie kam es, dass Santha's kleine Tochter gerade in die­sem Moment durch den Wald herunter kam, als wir wieder zum Wagen gehen woll­ten? Sie konnte ja gar nicht wissen, dass ihre Mutter zu Besuch kam. Ich habe bei der Rückfahrt mit meinem wegweisenden Be­kannten darüber ge­spro­chen - auch er war von die­sem Erlebnis tief ergriffen und meinte, dass da wohl eine hö­here Macht mit im Spiel war.

Und genau diese Aussage hat mich nicht mehr losgelas­sen, eine innere Stimme sagt mir immer wieder, dass ich durch dieses Erlebnis eine Aufgabe zugewiesen erhalten habe, welche ich in ir­gend einer Weise erfüllen muss. Yvonne und ich ha­ben lange und ausführlich darüber diskutiert, dieses Erlebnis hat auch sie sehr nach­denk­lich gemacht. So haben wir gemeinsam den Entschluss ge­fasst, diese Auf­gabe dankbar anzunehmen; dankbar in dem Sinne, dass wir hier in Indien eine neue Hei­mat fin­den durften und zu­sammen gesund, glücklich und zufrie­den leben.

Statt eine rauschende Party zu unserem einjährigen "Jubiläum" zu feiern, haben wir deshalb unse­rer Santha am Morgen des 18. August, also am ersten Jahrestag un­serer An­kunft in Varkala, im Beisein unseres gemeinsa­men Be­kannten Vijayn anlässlich einer kleinen Feier­stunde gesagt, dass sie ihre kleine Tochter Savitha am 5. Oktober (Santha's Ge­burtstag) für immer zu sich hierher nehmen kann. Wir wer­den für das kleine Mädchen sor­gen wie für ein eigenes Kind und ihm auch eine gute Schulbil­dung in einer engli­schen Privat­schule ermögli­chen. Auf diese Weise können wir zwei Menschen, die wirklich zu­sammen gehören, glücklich machen und sel­ber auch an diesem Glück teilha­ben. Wir wissen wohl, dass es noch Tausende von Kindern gibt, welche vom Schick­sal auch nicht begünstigt sind und dass unser Ent­schluss nur ein einziges Kind wieder mit sei­ner Mutter vereint. Wir meinen aber, dass es immer noch besser ist, EINE Mutter und EIN Kind glücklich zu ma­chen als rau­schende Parties zu feiern.

Ich weiss, diese Geschichte tönt wie ein modernes Mär­chen oder für manche Leute vielleicht sogar etwas kit­schig - Yvonne und mich hat es nachdenklich aber auch sehr glücklich gemacht. Ja, es ist ein modernes Märchen - aber eines, das Wirklich­keit geworden ist.

Varkala, 21. August 1997

* * * * * * *

Fortsetzung 7. Januar 1998

Savitha ist nun seit etwas mehr als drei Monaten bei uns und hat sich schnell bei uns eingelebt. Sie wohnt mit ih­rer Mutter zusammen in der separaten Dienstbotenwoh­nung neben unserem Haus. Die ersten Tage bei uns wa­ren für alle Beteiligten nicht leicht. Es galt, Savitha an die neue Um­ge­bung und an uns zu gewöhnen. Dies brauchte viel subti­les Einfühlungsvermögen. Vor allem mussten wir Savitha mit viel Liebe verständlich machen, dass sie fortan bei ihrer Mutter und bei uns bleiben kann. Wir durften dabei erle­ben, wie dankbar Savitha unsere Liebe entgegennahm und sich nur ganz langsam an den Gedan­ken gewöhnte, nicht mehr an den vorherigen Wohnort zurückkehren zu müs­sen, wo sie von der bösen Stief­mutter oft geschlagen und gedemütigt wurde. Spuren von den erhaltenen Schlägen waren noch lange an dem zarten Körper zu sehen und während den ersten Wochen klagte sie oft über Kopf­schmerzen, welche von den Schlägen herrührten.

Vom Montag bis Freitag besucht Savitha die Little Flower English School. Dort wird sie in eng­lisch und auch in ih­rer Muttersprache malayalam unterrichtet. Für ihr Alter macht sie unglaubli­che Fortschritte, spricht, liest und schreibt sie doch bereits das ganze englische Alphabet und auch die Zahlen von 1 bis 30. Von Tag zu Tag wird ihr englischer Wortschatz grösser. Dazu mag auch beitra­gen, dass sie sich mit uns ja nur englisch verständigen kann. Selbstverständ­lich gehö­ren auch einige schweizer­deutsche Ausdrücke, welche sie von uns aufschnappt, zu ihrem Wort­schatz. Umgekehrt lernen wir von ihr die wichtigsten Ausdrücke in malayalam. Obwohl sie nur das halbe Semester in der Schule besuchen konnte, hat sie an den Examen vor Weih­nachten 80 % der Aufgaben richtig gelöst.

Zu beschreiben, welche Bereicherung uns dieser kleine Sonnenschein in unser Haus bringt, dazu fehlen mir ganz einfach die Worte. Man muss diese leuchtenden Augen ge­sehen haben, den Aus­druck der Freude, des Erstaunens und der Ueberraschung., aber auch der Angst vor Dingen, wel­che Savitha das erste Mal in ihrem Leben sieht und für sie noch unverständlich oder unbegreiflich sind.

So, wie zum Beispiel die erste Begegnung mit einem Ted­dybären, welchen Yvonne aus der Schweiz für Savitha zur Begrüssung an ihrem ersten Tag bei uns mitgebracht hatte. Nur ganz zö­gernd und fest an ihre Mama geklam­mert, wagte sie eine Berührung des kuscheligen Spiel­zeugs, sie meinte, es sei ein lebendiges Wesen. Und wel­che über­schäumende Freude, als sie dann merkte, dass ihr der Teddy ja nichts antun wollte, sondern zum ku­scheln da ist. Seither hat sie ihn in den Armen, wenn immer es möglich ist.

Oder als wir am 14. Dezember ihren fünften Geburtstag feierten, das erste Mal, dass sie über­haupt dieses Ereignis feiern konnte. Die Freude an den fünf Kerzlein auf dem Geburtstagsku­chen und an den kleinen Geschenken war rührend.

Unvergesslich bleibt uns auch in Erinnerung, wie wir mit Savitha das erste Mal zum nahen Meer gingen. Zuerst die Angst vor der grossen Weite des Meeres und den sich am nahen Ufer über­schlagenden Wellen. Sie schmiegte sich fest an mich, suchte vor Angst zitternd den Halt und den Schutz bei mir. Und nur ganz langsam verflog ihre Angst, als ich mit ihr auf dem Arm einige Schritte ins warme Was­ser watete. Nie werden wir ihr fröhliches Jauchzen verges­sen, als Savitha selber die ersten zögernden Schritte ins Meer wagte, um sogleich wieder vor einer heranrol­lenden Welle wegzurennen und bei mir Schutz zu su­chen. Inzwi­schen ist sie mutiger geworden und möchte immer wieder ans Meer.

Savitha hat uns in der kurzen Zeit mit ihrem fröhlichen We­sen schon mehr gebracht, als wir ihr je werden geben kön­nen. Daran denken wir jedes Mal, wenn sie nach hin­duisti­schem Brauch am Abend das Deepam, eine ganz spezielle Oellampe, mit grosser Hingabe mit Blumen­blüten schmückt, die Räucherstäbchen anzündet und zu­sammen mit ihrer Mutter das Gebet verrichtet. Das sind dann Mo­mente, wo man ganz still und von einem unbe­schreibli­chen, unendlich wohli­gen Gefühl erfüllt wird, einem Ge­fühl, welches wohl das echte Glück bedeutet.

Es gibt nicht nur Märchen, welche Wirklichkeit werden, es gibt jeden Tag auch kleine Wunder - leider haben die mei­sten Leute verlernt, diese zu beachten. Yvonne und ich sind dankbar dafür, dass wir es in winzigen Schritten durch ein kleines indisches Mädchen wieder lernen dür­fen.

Mit ganz herzlichen Grüssen aus Kerala

Hans Müller

Varkala, Januar 1998

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Die indische Fahrprüfung

Hans Müller

In eigener Sache darf ich die erfreuliche Mitteilung ma­chen, dass ich die indische Fahrprü­fung mit Bravour hinter mich gebracht habe und demgemäss den indischen Führerschein für Scooter, Motorrad, Autorickshaw und Personenwagen erhalten werde. Und dies wohlgemerkt ohne eine Rupie Schmiergeld !!! Allerdings hatte ich mich vielleicht gerade deshalb durch einen langen und mühsamen Instanzenweg durchzuboxen. Selbst in Kerala ist es sehr schwierig, einen Beamten zu finden, welcher einem weiterhilft, ohne dabei die hohle Hand zu machen.

Die technische Seite und auch die Theorie an sich gingen soweit glatt durch, wenn nur das stundenlange Warten, zum Teil an der prallen Sonne, in ei­ner Schlange von ein paar hundert Leu­ten nicht gewesen wäre. Es gab natür­lich schon er­staunte Gesichter, an de­nen man die Frage ablesen konnte, was wohl dieser bärtige und dazu noch weisse Grossvater hier zu suchen hat. Viele meinten si­cher, ich hätte mich an eine fal­sche Veranstal­tung verirrt. Und noch grösser war dann das Erstaunen, als ich im Prü­fungsge­bäude vor ein paar grimmig drein­schauenden und als ranghohe Polizisten verkleideten Re­gie­rungsbe­amten den ganzen Papierkram hinter mich brachte, mich dann ganz läs­sig und wie selbstverständlich in eine für mich viel zu kleine Schulbank klemmte und die Ant­worten auf die zwanzig Fragen von einem schon sehr ab­genutz­ten und kaum mehr lesbaren Bogen fein säuberlich auf mein Prüfungsblatt eintrug. Nachher hiess es wieder nur ein paar wenige Stun­den draussen in der Menge warten, bis ich dann endlich am späte­ren Nachmittag meine Un­terla­gen mit dem Vermerk "bestanden" wieder zu­rück bekam. Zusam­men mit dem Lern­fahr­ausweis, welcher mich nun zum Bezug des definitiven Führer­scheins be­rechtigt. Na­türlich auch wieder mit einem Wust von wei­teren For­mularen mit vielen Stempeln und schwungvol­len, wenn auch unlesbaren Unterschriften. Einer der ebenfalls und wohl aus beruflichen Gründen grimmig dreinschauender Experte meinte, in der Betäti­gung der Hupe dürfte ich ge­trost noch ein paar Zacken zulegen. So werde ich halt auch der keralitischen Hup­kultur meine ganz besondere Aufmerk­samkeit schenken und fleissiger und freudig das Doppel­horn betäti­gen oder fröhlich hupen; man ist ja noch lernfähig und will nicht gern als Kulturbanause gel­ten. Immerhin darf ich mich rühmen, hier der einzige Weisse zu sein, welcher im zarten Alter von bald siebzig Jahren einen indi­schen Füh­rerschein erworben hat, auf einen Monat genau 47 Jahre nach der Fahr­prüfung im schweizerischen Zürich. Und der zum grossen Erstaunen der Einheimischen und der Touristen immer noch selber sein Auto durch den chaoti­schen Verkehr steuert und mit Elan und grosser Freude mit seiner Autorickshaw durch das Städtchen kurvt.

Varkala, 17. April 1999

Der indische Führerschein

Hans Müller

Am 17. April 1999 habe ich also mit Bravour die indi­sche Fahrprüfung bestanden. Nun galt es nur noch, den Führer­schein zu erhalten. Aber ich hatte ja noch meinen interna­tionalen Führer­schein, dessen Gültigkeits-dauer am 26. April ablief. Eine Verlängerung konnte ich nicht mehr be­antragen, da wir in der Schweiz keinen Wohnsitz mehr ha­ben. Nach der Fahrprüfung wurde mir beschie­den, dass die Ausstellung des Führerscheins eine Angele­genheit von we­nigen Ta­gen sei. Eigentlich hätte ich nach drei Jahren in Indien wissen müssen, dass in diesem Land die Bürokra­tie etwas komplizierter arbeitet als in der al­ten Heimat und der Ausdruck "in we­nigen Tagen" sehr dehnbar ist und auch "einige Monate" bedeuten kann.

Weil sich das für mich zuständige Strassen-verkehrsamt eine gute Autostunde entfernt in Tri­van­drum befindet, bat ich einen Bekann­ten, für den weiteren Ablauf besorgt zu sein. Ich übergab ihm also die gesamten Vorakten zur entspre­chenden Weiterleitung. "No Problem", war seine selbstver­ständliche Antwort, er habe einen Onkel im Transportministerium, der könne die Sache in zwei, ma­xi­mal drei Tagen er­ledigen. Aber wie meistens, wenn ein In­der "No Problem" sagt, begannen jetzt die Probleme. Of­fenbar hatte der Onkel vom Transportmi­nisterium nicht so ei­nen wichtigen Posten, wie mein Be­kannter mich glauben machen wollte. Dabei muss man wis­sen, dass hier jeder und überall einen bezie­hungsträchtigen Freund oder Onkel hat, welcher ihm hilft, ganz gleich welcher Art das Pro­blem auch sein mag. Auf alle Fälle wird ei­nem das immer glaub­haft versichert, stimmen tut es zwar meistens nicht. Aber "that's India"!

Der wichtige Onkel im Transportministerium liess mich also durch meinen Bekannten wis­sen, dass alles bestens vor sich gehe. Drei Tage später bekam ich den Bescheid, ich müsse nochmals persönlich beim Oberboss des Stra­ssen­verkehrsamtes vorsprechen. No problem, sagte ich mir und fuhr halt nochmals von Varkala nach Trivan­drum. Der Oberboss liess mich zuerst einmal eine halbe Stunde vor seinem Büro warten, womit er mir offenbar die Wichtig­keit seiner Funk­tion und auch seiner Persön­lichkeit unterstrei­chen wollte. Dann durfte ich eintreten. Der Ober­boss sass hinter seinem Schreibtisch und wühlte in irgendwelchen Papie­ren, die da haufenweise herumla­gen. Er trug eine hellbraune Polizeiuniform und auf den Ach­selpatten hatte er einen Stern. Verglichen mit den mir noch in ferner Er­innerung im Gedächt­nis haftenden Rangabzei­chen der schweizerischen Armeeoffiziere musste der Oberboss also ungefähr den Rang eines Ein­stern-Generals einnehmen. Er sah kurz zu mir auf, wühlte weiter wichtig in den Papieren, sah erstaunt nochmals auf und bemerkte vermutlich an meinem Ge­sichtsaus­druck, dass mich sein hoher Generals­rang nicht sonder­lich beeindruckte. Das bewog ihn, noch zwei zusätzliche Falten auf seine Stirn zu legen und mich mit dem grim­mig-wichti­gen Blick zu mustern, wie er nur jenen höhe­ren Beamten eigen ist, welche selbst am meisten von ih­rer Wichtigkeit überzeugt sind. Mit einer knappen Hand­bewegung wies er mich an, auf einem Stuhl vor sei­nem Schreibtisch Platz zu nehmen. Dann wühlte er weiter­hin in den Pa­pieren. Fast hatte ich ein wenig Mitleid mit ihm, weil ich vermutete, dass er gar nicht wusste, was er ei­gentlich in den Papieren suchte. Aber da rettete ihn ein Telefonanruf. Schnell riss er den Hörer an sein Ohr, wie wenn er Angst gehabt hätte, ich würde den Anruf entge­gennehmen. Und dann begann das Gespräch. Man muss nämlich wissen, dass die Inder gerne telefonieren, weil be­sonders im Süden das Telefonnetz erst im Aufbau ist. Und wenn sie dann schon einmal te­lefonieren, dann möglichst lange. Das tat auch der Oberboss, indem er während des Gesprä­ches immer wieder "hallohallo" sagte. Und minde­stens einhundert­dreiundsiebzig Mal ein hart artikuliertes "O" von sich gab, was in der Malayam-Sprache soviel wie "Ja" bedeutet. Zwi­schendurch erhellte und verdunkelte sich seine Miene, letzteres meistens während er mich musternd kurz betrachtete.

Das Telefon währte für meine Begriffe unendlich lange. Fast war ich versucht, seine "hallohallo's" und seine "O's" statistisch mit dem Jass-Strichcode zu erfassen. Aber da ich in der Auswertung eigentlich keinen Sinn sah, liess ich es bleiben. Nach Beendigung des Tele­fonats noch­mals ein kurzer wichtiger Blick in eines der vor ihm lie­genden Pa­piere und schon kam ich an die Reihe. Einen kurzen Au­genblick bemerkte ich etwas wie einen freundlichen Aus­druck in sei­nem finsteren Beamtenge­sicht. Vermutlich aber erschrak der Oberboss selber ob seiner mensch­lichen Re­gung und fragte knapp nach mei­nem Begehren. Ich machte ihm in kurzen Worten klar, dass ich derjenige sei, den er seinerzeit zur Ablegung der Fahrprüfung verdonnert hatte (obwohl, wie ich leider erst später feststellte, dies gegen die internationalen Abma­chungen war) und dass er dem Onkel vom Transportmi­nisterium habe ausrichten las­sen, ich müsse persönlich bei ihm er­scheinen. Kurz und prägnant, wie es sich für einen Be­amten der oberen Hierarchiestufe gebührt, sagte er: "Ja, ich kenne Sie. Papiere ?" Ich war dem Schicksal dankbar, dass ich in meinem Leben schon öfters mit Be­amten zu tun gehabt hatte. So verstand ich sein "Papiere?" auf Anhieb richtig und wies ihn höflich und mit einer entsprechenden Handbewegung auf die vor ihm lie­gen­den Papierhaufen darauf hin, dass sich die meine Per­son und die Fahrprüfung betreffenden Papiere bei ihm be­fin­den müssen. Und schon griff er in den Papierhaufen und nahm meine Unterlagen zur Hand. "Passport" war sein nächster Gesprächsbeitrag. Immer noch sehr höflich und mit einem verbindlichen Lächeln machte ich ihn darauf aufmerksam, dass sich eine notariell beglaubigte Kopie meines Passes bei den Unterlagen befinde. Und um ihm die Anstrengung einer weiteren Frage zu erspa­ren, fügte ich bei, dass auch eine notariell beglaubigte Niederlas­sungsbe­willigung dabei sei. Das hätte ich bes­ser nicht getan, zwei Fakten auf einmal sind auch für ei­nen indi­schen Einstern-General des Strassenverkehrs­amtes zu viel. Er machte ein beleidigtes Gesicht und fauchte mir zu: "Original Passport !" Und abermals tat er mir etwas leid, weil er vermutlich nicht damit gerech­net hatte, dass ich meinen Pass bei mir hatte und insge­heim hoffte, er könne mich nochmals nach Hause schic­ken, um den Pass zu holen. Leider musste ich ihn enttäu­schen. Ich öffnete meinen in seinen Augen sicher viel zu eleganten Akten­koffer, den er schon vorher wäh­rend sei­nes Telefonates neidisch betrachtet hatte, und ent­nahm den Pass, um ihn wie­derum mit einem freundlichen Lä­cheln dem Oberboss zu überreichen. Ich nehme an, dass es der erste Pass der Schweizerischen Eidgenossenschaft war, den er in den Händen hatte. Vor­sichtig und be­däch­tig begann er darin zu blättern, von vorne nach hinten, von hinten nach vorne und das glei­che noch dreimal. Beim fünften Durchlauf von vorne nach hinten hielt er auf Seite 3 inne, dort ist des Passinhabers Foto einge­klebt. Ein An­flug eines leichten Lächelns huschte sekun­den­schnell über sein Ge­sicht, wie wenn er sich denken würde: "Jetzt habe ich ihn erwischt". Ganz scharf be­trachtete er mein Foto auf Seite 3, blätterte in meinen vor ihm liegenden Unterlagen, wel­che ich mit 5 Passbildern einreichen musste, dann mu­sterte er mein Gesicht ebenso scharf, das ganze wieder­holte sich noch zweimal. Ich ahnte schlimmes und hörte ihn mit ei­nem Unterton, wel­cher nur Polizisten und Un­tersuchungs­beamten eigen ist, fast unhörbar sagen "Fotos nicht gleich". Insgeheim be­wunderte ich seine Fähigkeit, bei zwei Fotos des gleichen Mannes (eine ohne Bart, eine mit Bart) so schnell den Unterschied herausfinden zu können. Ich hatte diese Fä­higkeit eigentlich erst von einem Dreistern-Polizeigene­ral erwartet. Zum Glück für mich, zum Unglück für ihn war ich natür­lich auch auf diesen Fall vorbereitet. Und immer noch mit einem freundlichen Lächeln, aber doch mit etwas Schaden­freude in den Augen­winkeln antwor­tete ich ihm: "Yes Sir, Sie haben recht, die Fotos sind nicht gleich". Vermutlich brachte ich ihn etwas aus der Fassung, indem ich ihm ohne zu zö­gern recht gab, er hatte sicher mit mei­ner Resignation ge­rechnet. Mit lau­erndem Blick wartete er auf meine Recht­fertigung, wel­che sei­ner Ansicht nach eine billige Ausrede sein musste. "Sir," so fuhr ich weiter, indem ich ihm fest in die Augen sah, "Sir, wie Sie si­cher auf Seite 5 meines Passes leicht selber feststellen können, wurde dieser am 25. Juli 1988 in Bern von der Kantonalen Polizeidirektion ausgefer­tigt. Damals trug ich noch keinen Bart. Die Fo­tos, wel­che ich Ihnen mit meinen Dokumenten eingereicht habe, zeigen mich mit Bart, also genau so, wie Sie mich vor Ih­nen sehen. Den Bart habe ich erst in Indien wach­sen las­sen, weil meine Frau der Ansicht ist, der Bart passe gut zur indischen Beklei­dung, ich sähe so fast wie ein Guru aus". Beim Wort Guru zuckte er leicht zu­sam­men, fasste sich aber sofort wieder und sah diesmal mir einen Au­genblick fest in die Augen. Schon sah ich lang­sam meine Felle davon schwimmen, aber da nahm die Angelegen­heit plötzlich eine überra­schende Wendung. Er gab mir meinen Pass zurück, blät­terte kurz in meinen Unterla­gen und machte auf zwei Blät­tern mit dem Kugel­schreiber einen Haken. Und mit einer Handbe­wegung be­deutete er mir, die Unterhaltung sei be­endet, ich könne gehen! Und schon wandte er sich wie­der seinen Papieren zu und würdigte mich keines Blickes mehr. Ich erinnerte mich an meine gute Kinderstube und verliess den von seiner Macht überzeugten Mann mit einem "vielen Dank, Sir, ich wünsche Ihnen einen guten Tag". Und noch heute weiss ich nicht, ob ihn das Wort Guru so verunsichert hat, dass er sich bewusst wurde, schon viel zu viel Zeit mit dem komischen bärti­gen Weissen verschwendet zu haben. So fuhr ich wieder zurück an meinen Wohnort. Was ich mit Sicherheit wusste, war die Tatsache, fast ei­nen Tag mehr für fast nichts verbraten zu haben. Die Frage allerdings, ob und wie es nun mit meinem Führer­schein vor­wärts gehe, blieb vorläufig offen.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als auf den Einsatz meines Bekannten und seines Onkels im Transportmini­ste­rium zu hoffen. Und so hoffte ich weitere drei Tage vor mich hin, bis ich mich dann bei meinem Bekannten telefo­nisch nach dem Stand der Dinge erkundigte. Dieser reagierte sofort und erkundigte sich seinerseits bei sei­nem Onkel. Da dieser wegen der Heirat eines Ver­wand­ten einen Tag frei genommen hatte und am folgenden Tag ein von der Regierung kurzfristig anberaumter Frei­tag für alle Be­amten stattfand, vergingen weitere drei Tage, bis der Kon­takt zum Transportonkel hergestellt werden konnte. Doch die erhaltene Auskunft liess mich hoffen, noch vor Ablauf der Gültigkeitsdauer meines in­ternationalen Führer-scheines den indischen Führer­schein in den Händen zu haben.

Und genau wegen dem internationalen Führerschein schien es nochmals ein Problem zu geben. Ich hatte von diesem eine ebenfalls notariell beglaubigte Kopie zu den verlangten sonstigen Un­terlagen gegeben. So liess mich der Strassen­verkehrs-Einstern-General nochmals über den Transpor­tonkel zu sich bitten mit der Auflage, ihm das Original des internationalen Führerschei­nes vorzule­gen. Ich bat meinen Bekannten in Trivandrum telefo­nisch, diese Formalität doch für mich zu erledigen und sandte ihm durch einen Boten das verlangte Dokument. Mein Bekannter war gerne bereit, diesen Gang für mich zu tun, er werde seinen Transportonkel bitten, mit ihm zum Einstern-General zu kommen. So werde die Sache eine reine Formalität. Wie mir berichtet wurde, machten die beiden beim Einstern-General einen Termin aus und fuhren am Samstag recht­zeitig zum Strassenverkehrsamt. Dort wurde ihnen be­schieden, der General sei grad vor ei­nigen Minuten abge­fahren, er müsse bei der Abnahme der praktischen Fahr­prüfungen dabei sein. So wartete ich halt bis am Montag, aber dann hatte mein Bekannter ge­schäftlich in Quilon zu tun. Am Dienstagabend dann der erlösende Telefonanruf, die Besprechung beim General sei gut ver­laufen, alles sei in bester Ordnung. Es wäre da nur noch eine kleine Differenz zwischen den von mir aufgeführten und den im internatio­nalen Führerschein enthaltenen Fahrzeug-kategorien. Am besten wäre es, wenn ich nochmals persönlich beim Gene­ral vorsprechen könnte. Glücklicher­weise trägt man hier in Kerala keinen Hut, sonst wäre der mir vor Wut hochgegan­gen während ich meinem Bekannten am Telefon ein fröhli­ches "No problem" zusäuselte!

Um keine Zeit zu verlieren setzte ich mich am Mittwoch­morgen gleich ins Auto, um mich mög­lichst frühzeitig in die Warteschlange vor dem Büro des Generals einreihen zu können. Dass ich keinen in Indien gültigen Führer­schein mehr besass, war mir eigentlich egal. Wäre ich in eine Po­lizeikontrolle gekommen, hätte ich diese auf die beim Ge­neral befindlichen Unterlagen verwie­sen. Und wenn einer hier glaubhaft machen kann, den Oberboss persönlich zu kennen, nimmt jeder Polizeimann sofort stramm Haltung an und lässt einem zackig salutierend weiterfahren. Am Eingang zum Strassenverkehrsamt wartete mein Bekannter, um mich zum General zu be­gleiten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch den Transportonkel kennen, welcher meine nun auch äu­sser­lich zur Schau getragene Skepsis im Brust­ton der Ueber­zeugung zu zerstreuen suchte, indem er mir erklärte, wir würden vom General erwartet, er habe diesem meinen Besuch persönlich angekündigt.

Ob diese Aussage stimmte oder nur reine Angabe war, lässt sich nicht mehr feststellen. Tatsache war, dass der General gar nicht ins Büro kam, weil er an einem Emp­fang eines Ministers teilneh­men musste. Als wir nach ei­ner Stunde Wartezeit in der Schlange vor dem Büro des Generals durch einen Beamten diesen Bescheid erhielten, rief ich ei­nige ganz wüste Worte in Schweizer­deutsch aus, bemühte mich aber, dabei ein fröhliches Gesicht zu machen. Ich musste dies tun, weil man in Indien das Ge­sicht verliert, wenn man seine Wut offen zeigt. Und ich brauchte das Ge­sicht ja noch, nicht zuletzt auch für die Vorprache beim General am Nachmittag des nächsten Tages. Eine Fotogra­fie der verdutzten Gesichter meines Bekannten und seines "einflussreichen" Transportonkels, als ich mich nach mei­ner schweizer-deutschen Tirade wortlos umdrehte und, sie keines Blickes mehr würdi­gend, zu meinem Auto ging und ziemlich rasant davon­fuhr, diese Fo­tografie hätte an einem Wettbewerb mit Si­cherheit den ersten Preis gewinnen kön­nen.

Mir blieb also nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu fahren, um mich am anderen Tag nochmals nach Tri­vandrum zu bemühen. Dabei ist zu erwähnen, dass jeder Weg etwa eineinhalb Stunden Fahrt bedeutet. Als mein Be­kannter am Abend nochmals anrief sagte ich ihm mit aller Deutlichkeit, dass ich die guten Dienste seines Onkels als nicht so gut befinde und eigentlich eher darauf verzichten möchte. Das hat insofern positiv ge­wirkt, als ich am ande­ren Tag vor dem Büro des Generals von einem seiner Un­tergebenen empfangen und mir sogar eine Sitzgelegenheit an­ge­boten wurde. Wie sich herausstellte, war eine Journalistin beim General zu Besuch. Sie sei sehr hübsch, wurde mir im Vertrauen ins Ohr geflüstert. Dies führte bei mir allerdings zu ganz fal­schen Annah­men, als bereits wieder über eine Stunde verstrichen war und sich eine immer grö­sser wer­dende Zahl von Warten­den einfand, welche zum General vorgeladen waren. Und dann hat sich der Einfluss des Transportonkels doch noch offenbart, indem mich plötz­lich ein Beam­ter bat, mit ihm zu kommen. Für mich war es wie ein Spiessrutenlaufen, an all den Wartenden vorbei ins Büro des Generals be­gleitet zu werden.

Da sass also die hübsche Journalistin gegenüber dem sich scheinbar in aufgeräumter Laune be­findlichen und mir jo­vial entgegenlächelnden Einstern-General. Vermutlich hätte mir dieser am liebsten die Hand zum Gruss hinge­halten, was hier ja nicht üblich ist. Dieser Gauner hat vor der Journalistin eine bühnenreife Schau abgezogen, ver­mutlich um zu zeigen, wie volkstümlich er mit dem Pu­bli­kum verkehrt. Nachträglich habe ich erfahren, dass nach meinem Eintritt in des Gene­rals Büro alle anderen Leute, welche zum Teil schon mehr als zwei Stunden gewartet hatten, wie­der nach Hause geschickt wurden! Aber davon hat die Journalistin selbstverstän-dlich nichts ge­merkt. Uebrigens, so hübsch war die gar nicht, aber über den Ge­schmack lässt sich bekanntlich streiten. Während die Jour­nalistin eifrig Notizen machte, wollte der General meinen schweizeri­schen Führer-ausweis se­hen, angeblich zur Kon­trolle der Fahrzeug-kategorien, für welche ich die Prüfungen abgelegt hatte. Dabei stellte ich mit grossem Erstaunen fest, dass der Mann sogar ganze Sätze bilden konnte, ganz im Gegensatz zu meinen vori­gen Besuchen. Der General be­sich­tigte meinen Führeraus­weis auch wieder von allen Sei­ten. Er konnte es jedoch diesmal verknei­fen, auf das unter­schiedliche Foto (ohne Bart) hinzuweisen. Die Aussage wegen des Gurus lässt grüssen!

Doch dann kam der alte Haudegen wieder zum Vor­schein; er musste ja der Dame auch beweisen, wer hier der Herr im Hause ist. Mit strenger Miene fragte er mich nach der Gül­tigkeitsdauer mei­nes schweizerischen Füh­rerausweises. Ich erklärte ihm, dass der Ausweis unbe­grenzt gültig sei. Da wollte er wissen, wo dies auf dem Ausweis stehe. Des lan­gen und breiten versuchte ich, ihm klar zu machen, dass es in der Schweiz nicht üblich sei, auf dem Ausweis zu ver­merken, dieser sei un­begrenzt gültig. Man zahle in der Schweiz eine einmalige Gebühr für den Führerausweis, weil man festgestellt habe, dass die administrativen Umtriebe bei einer Kontrolle der Gültigkeitsdauer viel mehr kosten, als die Verlänge­rungsgebühren einbringen. Als er bei dieser endlos wer­denden Dis­kussion die Journalistin bei meinen Ar­gu­menten zustimmend nicken sah, verliess der General die­ses Thema. Dafür liess er meinen Blutdruck und meine Pulsfrequenz in die Höhe schnellen, als er bean­standete, der schweizerische Führerschein sei nicht in englischer Sprache abgefasst. Ich entgegnete, dass das englische in der Schweiz keine Amtssprache sei. Wenn er sich mit der deut­schen, französischen und italienischen Fassung nicht zu­frieden geben könne, solle er doch den englischen Text auf dem internationalen Führerschein le­sen. Nun sah er seine Profilierung gegenüber der Journa­listin in Gefahr und brach auch diese Diskussion ab mit der Bemerkung, ich solle ihm eine englische Ueberset­zung des schweize­rischen Führerausweises beibringen. Da ich sofort sagte, dies sei für mich kein Problem, liess er mich merken, dass die Au­dienz beendigt sei. Ich ver­abschiedete mich mit zusammengelegten Handflächen und einer klei­nen Verbeugung, der hier üblichen Grussform, von der Journalistin. Dem Ge­neral gegenüber verweigerte ich diese Höflichkeit, in­dem ich ihm sagte, ich hoffe sehr, mich in dieser Angelegen­heit nicht noch einmal zu ihm nach Trivandrum bemühen zu müssen.

Wer jetzt meint, ich hätte nach dieser Unterredung end­lich den indischen Führerschein erhalten, befindet sich in ei­nem grossen Irrtum. Mein Bekannter in Trivandrum hatte halt doch ein schlechtes Gewissen, nachdem ich ihm klipp und klar gesagt hatte, seine sogenannten guten Be­ziehun­gen hätten sich als Flop und Schaumschlägerei erwiesen. So versuchte er krampfhaft, sich bei mir wie­der in ein besseres Licht zu bringen. Ich rapportierte ihm kurz die Bespre­chung mit dem General und er anerbot sich spontan, für die verlangte Uebersetzung besorgt zu sein. Er kenne einen Professor im Ruhestand, welcher diese Uebersetzung ma­chen könne, dies sei absolut kein Problem. Als ich das "kein Problem" hörte, ahnte ich schon das nächste Unheil auf mich zukommen. Zwei Tage später rief mich der Be­kannte an und sagte, er habe nun die Uebersetzung und werde sie morgen dem Gene­ral bringen. Das hat er in der Folge dann auch getan. Fragt sich jetzt nur, mit welchem Resultat. Die Ueberset­zung war absolut professionell und in allen Teilen kor­rekt. Aber was fand dieser Generalsarsch zu beanstan­den? Er könne diese Arbeit nicht an­nehmen, weil sie nicht von einem vereidigten Uebersetzer gemacht und von der Universität be­glaubigt sei ....... Als ich diesen Bescheid erhielt, glaubte ich das hinterhältige Grinsen des Gene­rals zu sehen und seine Freude darüber, mir noch einmal eines auswischen zu können. Sein Glück war es, dass ich diesen Bescheid nicht von ihm selber er­hielt; ich hätte ihm höchstwahr­scheinlich meinen ganzen Wortschatz an Schimpfworten in schweizerdeutsch, hochdeutsch und englisch an den Kopf geschmissen. Mein Bekannter ver­suchte, mich zu beruhigen und ver­sprach, die vom General verlangte Beglaubigung zu be­schaffen. Und da wieder ein­mal ein Wochenende bevor­stand, ging es halt weitere drei Tage, bis die von einem vereidigten Uebersetzer und durch die Universität be­glaubigte Uebersetzung vorlag und glei­chentags noch dem General zu den Ak­ten gegeben werden konnte. Da­mit war das Kapitel Einstern-General-Oberboss für mich abge­schlossen.

Aber den Führerschein hatte ich immer noch nicht. Des­sen Ausstellung war nun Sache des Trans-portministeri­ums. Und da ich durch meinen Bekannten dort ja einen guten Onkel hatte, konnte eigentlich nichts mehr schief­gehen. Ich erhielt auch die Bestätigung, dass vom Stra­ssen­ver­kehrsamt die Ausgabe des Führerscheins an mich freigege­ben wurde. Es würde also nur noch eine Sache von wenigen Tagen sein....... diesen Spruch meinte ich auch schon gehört zu haben und meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Und weil ich ja nicht unhöflich sein wollte, rief ich ganz entgegen meiner sonstigen Gewohn­heit nicht schon am nächsten, sondern erst drei Tage später meinen Bekannten an. Ich fragte ihn nach seinem Befinden und wie es seiner Familie gehe, wie das Ge­schäft laufe und klagte über das wechselhafte Wetter. Und so ganz nebenbei fragte ich nach dem Verbleib mei­nes Führerscheines. Mei­nem Bekannten ging es ganz gut, seine Familie sei gesund und munter, das Geschäft laufe eher etwas flau, woran halt auch das für diese Jahreszeit sehr ungewöhnliche instabile Wetter schuld sei. Ja, und mein Führerschein sei bereits fertig gedruckt. "Oh wie schön", entfuhr es mir, "dann komme ich den Führer­schein morgen Vormittag bei dir abholen." Nach ei­nem kurzen Räuspern erfuhr ich, dass es da noch ein ganz kleines Problem gäbe, eigentlich fast nicht der Rede wert. Ich konnte nicht widerstehen, meinen Bekannten dazu zu bringen, mir das fast nicht der Rede werte Pro­blem zu schildern. "Weisst du", versuchte er mir in beru­higendem Tonfall beizubringen, "weisst du, diese Füh­rerausweise müssen plastifiziert werden und die Firma, welche das macht, hat kleine tech­nische Probleme mit der Plastifiziermaschine". Aber du kannst beru­higt sein, das dort sind absolute Profis, ich habe dort einen Freund, der ist Ingenieur und der kann ......." Ich spürte den Adrenalinstoss durch meine Adern fahren und stöhnte meinem Bekannten ins Telefon: "sag deinem Freund, er kann auch mich mal am A....bend besuchen!" Dann schmiss ich den Telefonhörer auf die Gabel, ob­wohl ja eigentlich weder der Hörer noch die Gabel etwas dafür konnten. Und wieder hörte ich mich wüste Worte von mir geben, bis meine liebe Frau ins Zimmer kam, mich mit besorgter Mine an­schaute und mich fragte, ob es mir nicht gut sei, ich hätte ein so wachsiges Gesicht, fast, wie wenn ich eine Pla­sticfolie verschluckt hätte....................

Zur Ehrenrettung meines Bekannten in Trivandrum sei festgehalten: er hatte recht, sein Freund in der Plastifi­zier­fabrik war ein echter Profi. Er brachte die Maschine nach zwei Tagen wieder zum laufen. Und am 10. Mai er­reichte mich die frohe Botschaft, dass alle, welche die Fahrprü­fung vor dem 15. April absolviert hatten, morgen den Führer­schein abholen konnten. "Hallelluja" entfuhr es mir und dann kam mir in den Sinn, dass ich ja die Prü­fung am 17. April abgelegt und erfolgreich bestanden hatte. Nur auf­grund der guten Beziehungen meines Be­kannten zum On­kel im Transportministerium durfte ich dann am 18. Mai 1999 meinen in Kreditkartengrösse kor­rekt gedruckten, mit meinem Foto (mit Bart) versehenen und blasenfrei plastifi­zierten indischen Füh­rerschein ent­gegen nehmen.

Mein Leben hat sich seither wieder mehr oder weniger normalisiert, mein Blutdruck und meine Pulsfrequenz ebenso. Hin und wieder gibt es ein Problem - glückli­cher­weise aber nicht mehr mit meinem Führer-schein. Dieses wird erst wieder kommen, wenn ich ihn nach fünf Jahren erneuern muss und ich hoffe, auch dann wieder einen hilfsbereiten Bekannten oder Freund zu haben, für den das alles "No Problem" ist.

Varkala, 18. Mai 1999

Die Verlängerung

oder

Der hilfsbereite Freund

Es ist kaum zu glauben, wie schnell auch hier in Indien 5 Jahre vorbeigehen. Inzwischen hatte ich natürlich viel gelernt in der Lösung von Problemen im Umgang mit Beamten und Behörden. Vor allem wusste ich jetzt, was ich beim letzten Mal falsch gemacht hatte. Mein unverzeihlicher Fehler war, dass ich bei der Audienz beim Einsterngeneral in meinen Pass nicht einige Hundertrupienscheine eingelegt hatte; ganz diskret natürlich. Und beim Durchblättern des Passes hätte ich sehr interessiert durch das Fenster dem emsigen Treiben draussen zusehen müssen, damit der General die so zufällig zwischen den Seiten 14 und 15 liegenden Scheinchen mit geübten Fingern hätte herausnehmen und in seiner Tasche verschwinden lassen können. Selbstverständlich auch dies mit absoluter Diskretion. Na ja, man lernt eben nie aus, selbst wenn man zu Aktivitäten gezwungen wird, die einem total zuwider sind. Aber anders geht es in Indien nicht, die Korruption ist hier schon lange salonfähig geworden und ausser mir scheint sich deswegen niemand aufzuregen.

Trotzdem sah ich der Verlängerung meines Führerausweises mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich vertraute mich diesmal einem wirklich guten Freund an. Er hatte meine frühere Leidensgeschichte in dieser Sache auch mitbekommen und als ich ihn wegen der Verlängerung um Rat fragte, war er so rücksichtsvoll, nicht einfach No problem zu sagen und auch nicht auf seine Verbindungen zu den einschlägigen Amtsstellen und Onkels hinzuweisen, sondern rasch und unbürokratisch zu handeln. Mit anderen Worten, den bürokratischen Krimskrams inklusive das Einfügen von einigen Hundertrupies-Scheinchen selbst in die Hand zu nehmen und mich diskret im Hintergrund zu lassen. Das einzige, was ich selber tun musste, war der Besuch bei der mir inzwischen auch gut bekannten Augenärztin. Diese musste auf dem dafür bestimmten amtlichen Formular meine Sehtüchtigkeit bestätigen und mit ihrem ebenso amtlichen Stempel besiegeln. Weil wir uns ja kannten, füllte sie das Formular während eines belanglosen Gespräches aus und setzte in den dafür bestimmten Linien die Sehschärfen meiner Augen ein. Ob die Zahlen auch stimmten, weiss ich nicht, jedenfalls sah sie keine Notwendigkeit, mich an das comuterisierte Messgerat zu bemühen und so meine Dioptrien zu messen. Hauptsache war, dass das Formular ausgefüllt, unterschrieben und mit ihrem amtsärztlichen Stempel versehen war. Gekostet hat es nichts – ein Hoch auf die persönlichen Beziehungen!

Dieses Formular, begleitet mit notariell beglaubigter Passkopie und Niederlassungsbewilligung sowie dem alten Führerschein übergab ich meinem Freund, welcher alles übrige für mich erledigte. Die Gebühren übergab ich ihm in einer runden Summe, worin auch die nötigen Schmiergelder für die an der weiteren Behandlung meines Verlängerungsgesuches beteiligten Personen und Beamten enthalten waren.

So fuhr ich nun drei Wochen lang ohne Führerschein durch die Gegend. Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Magen, obwohl ich den alten Führerschein während den ganzen fünf Jahren höchstens zweimal vorweisen musste. Zudem befand ich mich mental in dauernder Bereitschaft, auf Anforderung hin bei irgend so einem Polizeiheini erscheinen zu müssen.

Doch nichts dergleichen geschah. Mein Freund telefonierte mir, ich könne den Führerschein bei ihm abholen. Argwöhnisch fragte ich ihn, ob da irgend noch ein Problem sei. Er lachte und versicherte mir, es sei wirklich kein Problem vorhanden. Also fuhr ich flugs zu ihm und er übergab mir den neuen Führerschein. Leider nicht mehr in Kreditkartenform sondern als kleines Büchlein, was ich als echten technischen Rückschritt empfand. Ausser meinem Foto (immer noch mit Bart) waren da auf mehreren Seiten handschriftliche Eintragungen, welche eher als Gekritzel taxiert werden müssen. Zudem hatte es auch drei amtliche Stempel und zwei mit rotem Kugelschreiber eingetragene absolut unleserliche Unterschriften. Die Gültigkeitsdauer meines Führerausweises war leider nicht für weitere fünf, sondern nur noch um drei Jahre verlängert worden. Dies sei wegen meines Alters, denn für über 70ig Jährige werde der Ausweis nur für drei Jahre verlängert.

Soweit, so gut. Dann werde ich halt im Frühjahr 2007 wieder eine Verlängerung beantragen müssen. Bis dahin kann ich nur hoffen, dass der neue Führerausweis auch rechtens ist. Und dass auch in drei Jahren wieder jemand da ist, der weiss, wann, wieviel und wer mit einem Trinkgeld geschmiert werden muss. Selbst wenn mir das halt total gegen den Strich läuft.

Varkala, 27. Mai 2004

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