Ein Besuch im Waisenhaus St-Joseph
Yvonne Müller-Bruderer
Als wir am Dienstag ins Waisenhaus kamen, sassen einige der neuen Kinder im grossen Saal und schauten TV. Alle höckelten in einer Reihe und schauten mit grossen Augen, was da auf der Mattscheibe vor sich ging. In einer Ecke standen zwei ganz kleine Mädchen. Jincy, eine der Betreuerinnen, erklärte uns, das seien Zwillinge. Kürzlich erschien über sie ein Artikel in der Zeitung, weil ihre Mutter den etwas älteren Sohn verkauft habe und die Zwillinge brachte sie ins Waisenhaus. Die beiden sind erst 2 Jahre alt und eigentlich noch zu klein, um aufgenommen zu werden. Aber Christiane und Gérard, das Heimleiterehepaar, wurden weich und konnten einfach nicht nein sagen. Die zwei seien immer zusammen, lachen ständig und sind lieb und fröhlich. Also zwei völlig unkomplizierte, kleine Geschöpfe, welche einer ungewissen Zukunft entronnen sind und nun ein Heim gefunden haben. Ich ging auf die anderen Kinder zu und begrüsste jedes persönlich. Ja, die sahen schon noch ziemlich mitgenommen aus. Zum Teil mussten sie kahl geschoren werden wegen Läusen und anderen Parasiten, andere hatten noch grosse aufgeblähte Bäuche, sie hatten Ekzeme oder waren sonst verstochen von Ungeziefer. Und all die seelischen Nöte waren natürlich auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Zum Teil schauten sie mich skeptisch an, andere lachten und strahlten, doch sie tauten schnell auf und sie liessen sich streicheln, knuddeln und freuten sich, wenn sie mich anfassen durften. Ein paar darunter sind wirkliche Goldschätzchen und beim nächsten Besuch kennen sie uns dann bereits. Sie werden es hier sicher schön haben und werden ihre schwere Vergangenheit bald vergessen. Sie bekommen genug zu essen, haben ein Dach über dem Kopf, werden geliebt und geachtet, bekommen eine gute Schulausbildung und können einer besseren Zukunft entgegen blicken.
Dank der grosszügigen Spende einer Dame aus der Westschweiz konnte ein zusätzliches Gebäude erstellt werden. Das war auch der Grund, warum 36 neue Kinder aufgenommen werden konnten. Mit Jincy besichtigten wir das neue Gebäude, in welchem nun die grösseren Mädchen untergebracht sind. Ein 3-stöckiges Haus mit je einem Schlafsaal, sieben Toiletten und Duschen für 20 Mädchen. Diese Mädchen kommen allmählich in die Pubertät und müssen somit nicht mehr mit den Kleinen unten am Fluss baden. So haben auch sie ihre Privatsphäre und sie geniessen es, im neuen Haus mit mehr Platz wohnen zu dürfen. Später wird noch eine Passerelle vom Haus zum Hauptgebäude gebaut, da das jetzige neue Haus ausserhalb des Heimareals auf der anderen Seite der Strasse steht, gleich über dem Fluss und mit einer herrlichen Aussicht.
Damit gab es Platz in zwei Schlafsälen im Hauptareal für die neuen Mädchen. Die ganz Kleinen schlafen in einem Saal auf Reismatten, da viele noch in der Nacht nässen. Sie werden tagsüber im Heim betreut und müssen sich erst an die neue Tageseinteilung gewöhnen. Nach dem Mittagessen dürfen sie kurz etwas fernsehen und dann machen sie ihren Mittagsschlaf. Gerade als wir ihren Schlafraum besichtigten, kamen alle, um sich auf dem Boden hinzulegen. Jedes rollte seine Matte aus und dann liegen sie zusammen und schlafen.
Ein Mädchen lag in einer Ecke auf einer Matratze am Boden, war zugedeckt und schlief und als es erwachte, stöhnte es vor Schmerzen. Es musste operiert werden, da es unter starken Hämoroiden litt. Es hatte immer blutigen Stuhlgang. sodass eine Operation notwendig war. Jetzt muss es sich erst erholen und das Liegen verursacht natürlich auch Schmerzen, weil die Wunde genäht werden musste. Aber danach sollte dann hoffentlich alles gut werden.
Alle Neuzugänge sind zwischen dem 15. und 31. Mai eingetroffen. In der ersten Woche hätten alle viel geweint und nach ihren Müttern oder Verwandten geschrieen. Ja, wenn eines anfängt, weinen natürlich auch alle anderen... Aber es wurde schnell besser und jetzt schlafen alle friedlich und ruhig. Im oberen Schlafsaal des gleichen Gebäudes sind die etwas grösseren Neuzugänge einquartiert. Auch sie schlafen noch auf Reismatten und später hoffen wir, auch für sie Kajütenbetten und Matratzen anschaffen zu können. Für diese Kinder im Spielgruppen- und Kindergartenalter liess sich auch eine gute Lösung finden. Eigentlich war geplant, dass alle Neuzugänge die ersten beiden Jahre im Heim bleiben und dort unterrichtet werden, bevor sie in der Cotton Hill School eingeschult würden, wie die bisherigen 108 Mädchen. Christiane und Gérard haben nun aber in der Nähe des Heims eine kleine, erst vor kurzem eröffnete gute Schule gefunden, welche von Nonnen geführt wird. Die Nursery-School wird als English-Medium Klasse geführt und diese Kinder werden nun schon mit 4 Jahren englisch lernen. Die anderen im Kindergartenalter besuchen in der gleichen Schule die Malayalam Klasse. Somit sind jeweils nur noch ca 10 Kinder tagsüber im Heim und die anderen gehen bereits fleissig zur Schule. Hier wird schon im Kindergartenalter richtig unterrichtet mit Lesen und Schreiben, Rechnen, Sprachen und es geht zu und her wie im normalen Schulunterricht. Es gibt keine klassischen Kindergärten, wie es in der Schweiz üblich ist mit Spielen, Malen, Basteln, Geschichten hören etc. Aber die Kinder kennen hier nichts anderes und sie gewöhnen sich schnell an diesen Lernrhythmus, welcher über alle kommenden Schuljahre weiter geführt wird.
Wir gingen zu Christiane und Gérard hinauf in ihr Privathaus und wurden von den beiden über die letzten Geschehnisse informiert. Die beiden waren im Mai ganz schön gefordert, als es um die endgülte Auslese und Aufnahme der neuen Mädchen ging. Eigentlich hätten alle durch die Priester in den verschiedenen Fischerdorf-Regionen ausgewählt werden sollen, da sie die Familienverhältnisse am besten kennen. Doch es hatte sich schnell herum gesprochen, dass im Heim Plätze frei sind und so kamen jeden Tag Leute direkt zum Heim und wollten ihre Mädchen in die Obhut des Heimes geben. Sie weinten und erzählten, dass sie daheim noch viele andere Mäuler zu stopfen hätten, die Kleinen seien krank und sie hätten kein Geld für den Arzt. Andere Frauen brachten Kinder aus ihrer Verwandtschaft und sagten, sie hätten keine Eltern mehr und niemand wolle die Mädchen grossziehen. Die Entscheidung war wirklich nicht einfach, welchen Kindern sie nun eine Chance geben sollen und welche wirkliche Notfälle waren. Aber nun sind alle im Heim und Christiane hat jetzt alle Hände voll zu tun, die Familiengeschichten niederzuschreiben und die Dossiers für jedes einzelne Kind anzulegen.
Christiane erzählte uns von Lekhsmi, einem Mädchen, welches schon länger bei ihnen ist. Niemand aus der Familie oder Verwandtschaft kümmert sich um Lekhsmi und obwohl Christiane und Gérard immer wieder den Kontakt zur Mutter suchten, will diese von ihrem Kind nichts mehr wissen. Lekshmi kann weder in den Ferien zu ihrer Familie noch wird sie je von jemandem besucht. Christiane fand die Adresse der Grossmutter heraus und man bat sie, ihr Enkelkind doch einmal zu besuchen. Man würde ihr die Reisespesen bezahlen. Ja, sie käme vorbei und es wurde ein Termin ausgemacht. Lekshmi wartete natürlich ungeduldig auf den Besuch und freute sich, ihre Grossmutter zu sehen. Die kam dann auch tatsächlich und forderte gleich die Reisespesen für den Bus. Man übergab ihr 50 Rupien, obwohl der Bus nur 15 kostete. Sie bedankte sich und machte gleich wieder kehrt. Halt, halt, ihr Enkelkind erwarte sie und sie solle doch bitte eintreten. Nein, sie habe kein Interesse an dem Kind und sie verschwand... Das ist doch wirklich traurig. So kam die Frau nur des Geldes wegen und liess das wartende Mädchen einfach stehen. Wie schwer muss das für Lekshmi gewesen sein!!!
Bald wurde es für uns Zeit, dass wir uns verabschiedeten und als wir zum Auto gehen wollten, kam der Schulbus mit allen Kindern. Und so sahen wir auch noch die anderen neuen Mädchen, die bereits zur Schule gehen. Die ganz kleinen der englischen Abteilung trugen dunkelblaue Trägerröckchen, mit blau/weiss karrierten Blusen, blauen Socken und schwarzen Schuhen, die anderen aus der Malayalam Abteilung, rote Trägerröcke, weisse Blusen und rot/weiss gestreifte Krawatten, dazu rote Socken und schwarze Schuhe. Alle sahen so putzig aus, warenn aber müde vom langen Tag. Immer eines der grossen Mädchen kümmert sich um ein Neues und so wurden sie mit den schweren Schulsäcken auf dem Rücken die Stufen hinauf geschleppt, um sich umzuziehen. Danach gab es Zvieri und später wurde im Fluss gebadet.
24. Juni 2003
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