Savitha, ein modernes indisches Märchen
Hans Müller
Am 18. August 1997 war es genau ein Jahr her, dass wir in Varkala angekommen sind und uns hier niedergelassen haben. Eigentlich hatten wir vorgehabt, unser "Jubiläum" so richtig festmässig mit einer grossen Party zu begehen. Aber wie so oft bei Müllers, erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt …….
Ich hatte vorige Woche ein ganz sonderbares Erlebnis. Unsere Hausangestellte Santha wollte zwei Freitage einziehen. Da sie wegen eines geschwollenen Beins starke Schmerzen hatte, entschloss ich mich ganz kurzfristig, sie selber nach Hause zu fahren, ungefähr 40 km von Varkala weg in einem kleinen Ort in den Bergen. Mr. Vijayn, ein Bekannter, welcher uns Santha seinerzeit empfohlen und bei uns eingeführt hatte, stellte sich spontan als Begleiter und vor allem als Wegweiser zur Verfügung.
Am Bestimmungsort angekommen, zeigte uns Santha ihr Häuschen, bestehend aus einem einzigen Raum, etwa so gross wie unser Wohnzimmer. Es steht ganz idyllisch an einem Waldrand, inmitten von vielen Palmen und anderen Bäumen. Es ist jetzt unbewohnt; während den Aufenthalten in ihrem Dorf wohnt Santha bei der Schwester ihrer Mutter. Als wir wieder zum Auto zurückgingen - Santha voraus, dann unser Wegweiser und ich - kam uns von oben ganz allein ein herziges, kleines Mädchen entgegen mit einer Tasche. Santha und das kleine Mädchen liefen mit einem Freudenschrei aufeinander zu und Santha schloss ihre kleine Tochter fest in die Arme, Freudentränen liefen beiden über die Wangen, ein echt ergreifendes Bild.
Ja, und was ist daran denn Besonderes, werdet Ihr jetzt sicher denken, solche Wiedersehensereignisse gibt es doch alle Tage zu Tausenden. Da habt Ihr zwar recht, aber jetzt möchte ich Euch erzählen, weshalb dieses Wiedersehen für mich eine ganz andere Bedeutung bekam:
Unsere Santha, 32 Jahre alt, ist verheiratet und hat zwei Kinder, beides Mädchen. Sie wohnte mit ihrer Familie an verschiedenen Orten, Gujarat und Bombay. Ihr Mann fand dann Santha's Schwester attraktiver und wollte einen Haushalt zu Dritt führen - Santha sollte dabei das Dienstmädchen spielen und ihr Mann und ihre Schwester das Ehepaar. Santha machte das nicht mit und ging zurück in ihr Dorf und ihr Häuschen und suchte eine Stelle als Hausmädchen, welche sie dann zuletzt bei uns fand. Ihr Mann wohnt jetzt mit der älteren Tochter in Bombay, wo diese zur Schule geht und die jüngere Tochter Savitha wohnt bei Santha's Schwester, welche für das kleine Mädchen (5 ½ Jahre alt) zum lebenden Inbegriff der bösen Stiefmutter geworden ist. Diese hat Santha's Kind jeglichen Kontakt mit Santha, der leiblichen Mutter, verboten. Sie hat es gezwungen, ihr Mutter zu sagen und von der eigenen Mutter nur von Santha zu sprechen. Am Tisch hat die Kleine allein zu sitzen, bekommt nur kärgliches Essen und dafür um so mehr Schläge.
Als ich das alles erfahren habe, musste ich ein paar Mal leer schlucken. Wir haben unsere Santha in den fünf Monaten, welche sie bei uns ist, recht lieb gewonnen. Sie nennt uns auch Mutter und Vater, weil wir nach ihrer Aussage gegenüber Dritten so gut für sie sorgen und sie bei uns gut aufgehoben und auch beschützt ist. Das Bild vom zufälligen Zusammentreffen von Santha und ihrem Kind, welches von der Schule nach Hause kam, hat mich bis heute nicht verlassen und mir nach meiner Rückkehr eine schlaflose Nacht bereitet. Ich habe Yvonne die ganze Begegnung geschildert; wir waren beide erschüttert und bewundern die Stärke von Santha, mit welcher sie dieses Schicksal trägt: von der eigenen Familie ausgestossen, in Diensten bei fremden Leuten, welche erst noch eine andere Sprache sprechen, das Wissen um ihre Familienverhältnisse und die Umstände, unter welchen die kleine Savitha zu leiden hat.
Immer wieder mussten wir uns fragen, was mich dazu bewogen hatte, Santha nicht mit dem Bus nach Hause fahren zu lassen sondern sie mit unserem Wagen selbst dorthin zu bringen. Weshalb haben wir zuerst das Haus von Santha besichtigt, anstatt direkt zu ihrer Tante zu fahren? Und wie kam es, dass Santha's kleine Tochter gerade in diesem Moment durch den Wald herunter kam, als wir wieder zum Wagen gehen wollten? Sie konnte ja gar nicht wissen, dass ihre Mutter zu Besuch kam. Ich habe bei der Rückfahrt mit meinem wegweisenden Bekannten darüber gesprochen - auch er war von diesem Erlebnis tief ergriffen und meinte, dass da wohl eine höhere Macht mit im Spiel war.
Und genau diese Aussage hat mich nicht mehr losgelassen, eine innere Stimme sagt mir immer wieder, dass ich durch dieses Erlebnis eine Aufgabe zugewiesen erhalten habe, welche ich in irgend einer Weise erfüllen muss. Yvonne und ich haben lange und ausführlich darüber diskutiert, dieses Erlebnis hat auch sie sehr nachdenklich gemacht. So haben wir gemeinsam den Entschluss gefasst, diese Aufgabe dankbar anzunehmen; dankbar in dem Sinne, dass wir hier in Indien eine neue Heimat finden durften und zusammen gesund, glücklich und zufrieden leben.
Statt eine rauschende Party zu unserem einjährigen "Jubiläum" zu feiern, haben wir deshalb unserer Santha am Morgen des 18. August, also am ersten Jahrestag unserer Ankunft in Varkala, im Beisein unseres gemeinsamen Bekannten Vijayn anlässlich einer kleinen Feierstunde gesagt, dass sie ihre kleine Tochter Savitha am 5. Oktober (Santha's Geburtstag) für immer zu sich hierher nehmen kann. Wir werden für das kleine Mädchen sorgen wie für ein eigenes Kind und ihm auch eine gute Schulbildung in einer englischen Privatschule ermöglichen. Auf diese Weise können wir zwei Menschen, die wirklich zusammen gehören, glücklich machen und selber auch an diesem Glück teilhaben. Wir wissen wohl, dass es noch Tausende von Kindern gibt, welche vom Schicksal auch nicht begünstigt sind und dass unser Entschluss nur ein einziges Kind wieder mit seiner Mutter vereint. Wir meinen aber, dass es immer noch besser ist, EINE Mutter und EIN Kind glücklich zu machen als rauschende Parties zu feiern.
Ich weiss, diese Geschichte tönt wie ein modernes Märchen oder für manche Leute vielleicht sogar etwas kitschig - Yvonne und mich hat es nachdenklich aber auch sehr glücklich gemacht. Ja, es ist ein modernes Märchen - aber eines, das Wirklichkeit geworden ist.
Varkala, 21. August 1997
* * * * * * *
Fortsetzung 7. Januar 1998
Savitha ist nun seit etwas mehr als drei Monaten bei uns und hat sich schnell bei uns eingelebt. Sie wohnt mit ihrer Mutter zusammen in der separaten Dienstbotenwohnung neben unserem Haus. Die ersten Tage bei uns waren für alle Beteiligten nicht leicht. Es galt, Savitha an die neue Umgebung und an uns zu gewöhnen. Dies brauchte viel subtiles Einfühlungsvermögen. Vor allem mussten wir Savitha mit viel Liebe verständlich machen, dass sie fortan bei ihrer Mutter und bei uns bleiben kann. Wir durften dabei erleben, wie dankbar Savitha unsere Liebe entgegennahm und sich nur ganz langsam an den Gedanken gewöhnte, nicht mehr an den vorherigen Wohnort zurückkehren zu müssen, wo sie von der bösen Stiefmutter oft geschlagen und gedemütigt wurde. Spuren von den erhaltenen Schlägen waren noch lange an dem zarten Körper zu sehen und während den ersten Wochen klagte sie oft über Kopfschmerzen, welche von den Schlägen herrührten.
Vom Montag bis Freitag besucht Savitha die Little Flower English School. Dort wird sie in englisch und auch in ihrer Muttersprache malayalam unterrichtet. Für ihr Alter macht sie unglaubliche Fortschritte, spricht, liest und schreibt sie doch bereits das ganze englische Alphabet und auch die Zahlen von 1 bis 30. Von Tag zu Tag wird ihr englischer Wortschatz grösser. Dazu mag auch beitragen, dass sie sich mit uns ja nur englisch verständigen kann. Selbstverständlich gehören auch einige schweizerdeutsche Ausdrücke, welche sie von uns aufschnappt, zu ihrem Wortschatz. Umgekehrt lernen wir von ihr die wichtigsten Ausdrücke in malayalam. Obwohl sie nur das halbe Semester in der Schule besuchen konnte, hat sie an den Examen vor Weihnachten 80 % der Aufgaben richtig gelöst.
Zu beschreiben, welche Bereicherung uns dieser kleine Sonnenschein in unser Haus bringt, dazu fehlen mir ganz einfach die Worte. Man muss diese leuchtenden Augen gesehen haben, den Ausdruck der Freude, des Erstaunens und der Ueberraschung., aber auch der Angst vor Dingen, welche Savitha das erste Mal in ihrem Leben sieht und für sie noch unverständlich oder unbegreiflich sind.
So, wie zum Beispiel die erste Begegnung mit einem Teddybären, welchen Yvonne aus der Schweiz für Savitha zur Begrüssung an ihrem ersten Tag bei uns mitgebracht hatte. Nur ganz zögernd und fest an ihre Mama geklammert, wagte sie eine Berührung des kuscheligen Spielzeugs, sie meinte, es sei ein lebendiges Wesen. Und welche überschäumende Freude, als sie dann merkte, dass ihr der Teddy ja nichts antun wollte, sondern zum kuscheln da ist. Seither hat sie ihn in den Armen, wenn immer es möglich ist.
Oder als wir am 14. Dezember ihren fünften Geburtstag feierten, das erste Mal, dass sie überhaupt dieses Ereignis feiern konnte. Die Freude an den fünf Kerzlein auf dem Geburtstagskuchen und an den kleinen Geschenken war rührend.
Unvergesslich bleibt uns auch in Erinnerung, wie wir mit Savitha das erste Mal zum nahen Meer gingen. Zuerst die Angst vor der grossen Weite des Meeres und den sich am nahen Ufer überschlagenden Wellen. Sie schmiegte sich fest an mich, suchte vor Angst zitternd den Halt und den Schutz bei mir. Und nur ganz langsam verflog ihre Angst, als ich mit ihr auf dem Arm einige Schritte ins warme Wasser watete. Nie werden wir ihr fröhliches Jauchzen vergessen, als Savitha selber die ersten zögernden Schritte ins Meer wagte, um sogleich wieder vor einer heranrollenden Welle wegzurennen und bei mir Schutz zu suchen. Inzwischen ist sie mutiger geworden und möchte immer wieder ans Meer.
Savitha hat uns in der kurzen Zeit mit ihrem fröhlichen Wesen schon mehr gebracht, als wir ihr je werden geben können. Daran denken wir jedes Mal, wenn sie nach hinduistischem Brauch am Abend das Deepam, eine ganz spezielle Oellampe, mit grosser Hingabe mit Blumenblüten schmückt, die Räucherstäbchen anzündet und zusammen mit ihrer Mutter das Gebet verrichtet. Das sind dann Momente, wo man ganz still und von einem unbeschreiblichen, unendlich wohligen Gefühl erfüllt wird, einem Gefühl, welches wohl das echte Glück bedeutet.
Es gibt nicht nur Märchen, welche Wirklichkeit werden, es gibt jeden Tag auch kleine Wunder - leider haben die meisten Leute verlernt, diese zu beachten. Yvonne und ich sind dankbar dafür, dass wir es in winzigen Schritten durch ein kleines indisches Mädchen wieder lernen dürfen.
Mit ganz herzlichen Grüssen aus Kerala
Hans Müller
Varkala, Januar 1998
______________________________________________
Copyright 1998: Merlotscha Consulting Private Limited
Villa Deepam, Puthanchantha, Varkala 695141, Kerala / India
Telefon 0091 470 26 00 888
e-mail: merlotscha@hotmail.com
0 Comments:
Post a Comment
<< Home