Schriftenreihe Privat

Wednesday, January 10, 2007

Savitha, ein modernes indisches Märchen

Hans Müller

Am 18. August 1997 war es genau ein Jahr her, dass wir in Varkala angekommen sind und uns hier niedergelassen ha­ben. Eigentlich hatten wir vorgehabt, unser "Jubiläum" so richtig festmä­ssig mit einer gro­ssen Party zu begehen. Aber wie so oft bei Müllers, erstens kommt es anders, und zwei­tens, als man denkt …….

Ich hatte vorige Woche ein ganz sonderbares Erlebnis. Un­sere Hausangestellte Santha wollte zwei Freitage ein­ziehen. Da sie wegen eines geschwollenen Beins starke Schmerzen hatte, ent­schloss ich mich ganz kurzfristig, sie selber nach Hause zu fah­ren, ungefähr 40 km von Varkala weg in ei­nem kleinen Ort in den Bergen. Mr. Vijayn, ein Bekannter, welcher uns Santha seinerzeit empfohlen und bei uns ein­geführt hatte, stellte sich spontan als Begleiter und vor al­lem als Weg­weiser zur Verfügung.

Am Bestimmungsort angekommen, zeigte uns Santha ihr Häuschen, bestehend aus einem einzi­gen Raum, etwa so gross wie unser Wohnzimmer. Es steht ganz idyllisch an einem Waldrand, inmitten von vielen Palmen und ande­ren Bäumen. Es ist jetzt unbewohnt; während den Auf­ent­hal­ten in ihrem Dorf wohnt Santha bei der Schwester ihrer Mutter. Als wir wieder zum Auto zurückgingen - Santha voraus, dann unser Wegweiser und ich - kam uns von oben ganz allein ein herziges, kleines Mädchen ent­gegen mit ei­ner Tasche. Santha und das kleine Mädchen liefen mit ei­nem Freudenschrei aufeinan­der zu und Santha schloss ihre kleine Tochter fest in die Arme, Freudentränen liefen bei­den über die Wangen, ein echt ergreifendes Bild.

Ja, und was ist daran denn Besonderes, werdet Ihr jetzt si­cher denken, solche Wieder­sehenser­eignisse gibt es doch alle Tage zu Tausenden. Da habt Ihr zwar recht, aber jetzt möchte ich Euch erzählen, weshalb dieses Wiedersehen für mich eine ganz an­dere Bedeutung be­kam:

Unsere Santha, 32 Jahre alt, ist verheiratet und hat zwei Kinder, beides Mädchen. Sie wohnte mit ihrer Familie an verschiedenen Orten, Gujarat und Bombay. Ihr Mann fand dann Santha's Schwester attrakti­ver und wollte ei­nen Haushalt zu Dritt führen - Santha sollte dabei das Dienst­mädchen spielen und ihr Mann und ihre Schwester das Ehe­paar. Santha machte das nicht mit und ging zu­rück in ihr Dorf und ihr Häuschen und suchte eine Stelle als Hausmädchen, wel­che sie dann zuletzt bei uns fand. Ihr Mann wohnt jetzt mit der älteren Tochter in Bombay, wo diese zur Schule geht und die jün­gere Tochter Savitha wohnt bei Santha's Schwester, welche für das kleine Mäd­chen (5 ½ Jahre alt) zum lebenden Inbegriff der bö­sen Stiefmutter geworden ist. Diese hat Santha's Kind jegli­chen Kontakt mit Santha, der leiblichen Mutter, verboten. Sie hat es gezwungen, ihr Mutter zu sagen und von der eigenen Mutter nur von Santha zu sprechen. Am Tisch hat die Kleine al­lein zu sitzen, bekommt nur kärg­liches Essen und dafür um so mehr Schläge.

Als ich das alles erfahren habe, musste ich ein paar Mal leer schlucken. Wir haben unsere Santha in den fünf Monaten, welche sie bei uns ist, recht lieb gewonnen. Sie nennt uns auch Mutter und Vater, weil wir nach ihrer Aussage gegen­über Dritten so gut für sie sorgen und sie bei uns gut auf­gehoben und auch beschützt ist. Das Bild vom zufälligen Zusammentreffen von Santha und ihrem Kind, welches von der Schule nach Hause kam, hat mich bis heute nicht verlassen und mir nach meiner Rückkehr eine schlaflose Nacht bereitet. Ich habe Yvonne die ganze Begegnung ge­schildert; wir waren beide erschüt­tert und bewundern die Stärke von Santha, mit wel­cher sie dieses Schicksal trägt: von der eigenen Familie ausge­stossen, in Diensten bei fremden Leuten, welche erst noch eine andere Sprache sprechen, das Wissen um ihre Familienverhältnisse und die Um­stände, unter welchen die kleine Savitha zu lei­den hat.

Immer wieder mussten wir uns fragen, was mich dazu be­wogen hatte, Santha nicht mit dem Bus nach Hause fahren zu lassen sondern sie mit unserem Wagen selbst dorthin zu bringen. Weshalb haben wir zuerst das Haus von Santha besichtigt, anstatt direkt zu ihrer Tante zu fahren? Und wie kam es, dass Santha's kleine Tochter gerade in die­sem Moment durch den Wald herunter kam, als wir wieder zum Wagen gehen woll­ten? Sie konnte ja gar nicht wissen, dass ihre Mutter zu Besuch kam. Ich habe bei der Rückfahrt mit meinem wegweisenden Be­kannten darüber ge­spro­chen - auch er war von die­sem Erlebnis tief ergriffen und meinte, dass da wohl eine hö­here Macht mit im Spiel war.

Und genau diese Aussage hat mich nicht mehr losgelas­sen, eine innere Stimme sagt mir immer wieder, dass ich durch dieses Erlebnis eine Aufgabe zugewiesen erhalten habe, welche ich in ir­gend einer Weise erfüllen muss. Yvonne und ich ha­ben lange und ausführlich darüber diskutiert, dieses Erlebnis hat auch sie sehr nach­denk­lich gemacht. So haben wir gemeinsam den Entschluss ge­fasst, diese Auf­gabe dankbar anzunehmen; dankbar in dem Sinne, dass wir hier in Indien eine neue Hei­mat fin­den durften und zu­sammen gesund, glücklich und zufrie­den leben.

Statt eine rauschende Party zu unserem einjährigen "Jubiläum" zu feiern, haben wir deshalb unse­rer Santha am Morgen des 18. August, also am ersten Jahrestag un­serer An­kunft in Varkala, im Beisein unseres gemeinsa­men Be­kannten Vijayn anlässlich einer kleinen Feier­stunde gesagt, dass sie ihre kleine Tochter Savitha am 5. Oktober (Santha's Ge­burtstag) für immer zu sich hierher nehmen kann. Wir wer­den für das kleine Mädchen sor­gen wie für ein eigenes Kind und ihm auch eine gute Schulbil­dung in einer engli­schen Privat­schule ermögli­chen. Auf diese Weise können wir zwei Menschen, die wirklich zu­sammen gehören, glücklich machen und sel­ber auch an diesem Glück teilha­ben. Wir wissen wohl, dass es noch Tausende von Kindern gibt, welche vom Schick­sal auch nicht begünstigt sind und dass unser Ent­schluss nur ein einziges Kind wieder mit sei­ner Mutter vereint. Wir meinen aber, dass es immer noch besser ist, EINE Mutter und EIN Kind glücklich zu ma­chen als rau­schende Parties zu feiern.

Ich weiss, diese Geschichte tönt wie ein modernes Mär­chen oder für manche Leute vielleicht sogar etwas kit­schig - Yvonne und mich hat es nachdenklich aber auch sehr glücklich gemacht. Ja, es ist ein modernes Märchen - aber eines, das Wirklich­keit geworden ist.

Varkala, 21. August 1997

* * * * * * *

Fortsetzung 7. Januar 1998

Savitha ist nun seit etwas mehr als drei Monaten bei uns und hat sich schnell bei uns eingelebt. Sie wohnt mit ih­rer Mutter zusammen in der separaten Dienstbotenwoh­nung neben unserem Haus. Die ersten Tage bei uns wa­ren für alle Beteiligten nicht leicht. Es galt, Savitha an die neue Um­ge­bung und an uns zu gewöhnen. Dies brauchte viel subti­les Einfühlungsvermögen. Vor allem mussten wir Savitha mit viel Liebe verständlich machen, dass sie fortan bei ihrer Mutter und bei uns bleiben kann. Wir durften dabei erle­ben, wie dankbar Savitha unsere Liebe entgegennahm und sich nur ganz langsam an den Gedan­ken gewöhnte, nicht mehr an den vorherigen Wohnort zurückkehren zu müs­sen, wo sie von der bösen Stief­mutter oft geschlagen und gedemütigt wurde. Spuren von den erhaltenen Schlägen waren noch lange an dem zarten Körper zu sehen und während den ersten Wochen klagte sie oft über Kopf­schmerzen, welche von den Schlägen herrührten.

Vom Montag bis Freitag besucht Savitha die Little Flower English School. Dort wird sie in eng­lisch und auch in ih­rer Muttersprache malayalam unterrichtet. Für ihr Alter macht sie unglaubli­che Fortschritte, spricht, liest und schreibt sie doch bereits das ganze englische Alphabet und auch die Zahlen von 1 bis 30. Von Tag zu Tag wird ihr englischer Wortschatz grösser. Dazu mag auch beitra­gen, dass sie sich mit uns ja nur englisch verständigen kann. Selbstverständ­lich gehö­ren auch einige schweizer­deutsche Ausdrücke, welche sie von uns aufschnappt, zu ihrem Wort­schatz. Umgekehrt lernen wir von ihr die wichtigsten Ausdrücke in malayalam. Obwohl sie nur das halbe Semester in der Schule besuchen konnte, hat sie an den Examen vor Weih­nachten 80 % der Aufgaben richtig gelöst.

Zu beschreiben, welche Bereicherung uns dieser kleine Sonnenschein in unser Haus bringt, dazu fehlen mir ganz einfach die Worte. Man muss diese leuchtenden Augen ge­sehen haben, den Aus­druck der Freude, des Erstaunens und der Ueberraschung., aber auch der Angst vor Dingen, wel­che Savitha das erste Mal in ihrem Leben sieht und für sie noch unverständlich oder unbegreiflich sind.

So, wie zum Beispiel die erste Begegnung mit einem Ted­dybären, welchen Yvonne aus der Schweiz für Savitha zur Begrüssung an ihrem ersten Tag bei uns mitgebracht hatte. Nur ganz zö­gernd und fest an ihre Mama geklam­mert, wagte sie eine Berührung des kuscheligen Spiel­zeugs, sie meinte, es sei ein lebendiges Wesen. Und wel­che über­schäumende Freude, als sie dann merkte, dass ihr der Teddy ja nichts antun wollte, sondern zum ku­scheln da ist. Seither hat sie ihn in den Armen, wenn immer es möglich ist.

Oder als wir am 14. Dezember ihren fünften Geburtstag feierten, das erste Mal, dass sie über­haupt dieses Ereignis feiern konnte. Die Freude an den fünf Kerzlein auf dem Geburtstagsku­chen und an den kleinen Geschenken war rührend.

Unvergesslich bleibt uns auch in Erinnerung, wie wir mit Savitha das erste Mal zum nahen Meer gingen. Zuerst die Angst vor der grossen Weite des Meeres und den sich am nahen Ufer über­schlagenden Wellen. Sie schmiegte sich fest an mich, suchte vor Angst zitternd den Halt und den Schutz bei mir. Und nur ganz langsam verflog ihre Angst, als ich mit ihr auf dem Arm einige Schritte ins warme Was­ser watete. Nie werden wir ihr fröhliches Jauchzen verges­sen, als Savitha selber die ersten zögernden Schritte ins Meer wagte, um sogleich wieder vor einer heranrol­lenden Welle wegzurennen und bei mir Schutz zu su­chen. Inzwi­schen ist sie mutiger geworden und möchte immer wieder ans Meer.

Savitha hat uns in der kurzen Zeit mit ihrem fröhlichen We­sen schon mehr gebracht, als wir ihr je werden geben kön­nen. Daran denken wir jedes Mal, wenn sie nach hin­duisti­schem Brauch am Abend das Deepam, eine ganz spezielle Oellampe, mit grosser Hingabe mit Blumen­blüten schmückt, die Räucherstäbchen anzündet und zu­sammen mit ihrer Mutter das Gebet verrichtet. Das sind dann Mo­mente, wo man ganz still und von einem unbe­schreibli­chen, unendlich wohli­gen Gefühl erfüllt wird, einem Ge­fühl, welches wohl das echte Glück bedeutet.

Es gibt nicht nur Märchen, welche Wirklichkeit werden, es gibt jeden Tag auch kleine Wunder - leider haben die mei­sten Leute verlernt, diese zu beachten. Yvonne und ich sind dankbar dafür, dass wir es in winzigen Schritten durch ein kleines indisches Mädchen wieder lernen dür­fen.

Mit ganz herzlichen Grüssen aus Kerala

Hans Müller

Varkala, Januar 1998

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